Chronik
einer Endomorphose, 07. Februar 2002
Rechtlos im Niemandsland
Gedanken
zu einem Artikel aus der Zeit
7.2.2002, Seite 29, Autor: Thomas
Assheuer
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Auf diesen Internetseiten
wird der Gedanke betrachtet, dass auf der Erde demnächst
Wirtschaftsunternehmen immer mehr
Ähnlichkeiten zu biologischen Lebewesen
aufweisen könnten. Die Rolle des Menschen dabei ist noch
unklar. Denkbar aber ist, dass Menschen gegenüber diesen
"Überwesen", den Firmen, in etwa dem
Verhältnis stehen werden wie Zellen zu Organismen. |
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Startseite des Kapitels:
Endomorphose Unternehmen als Wesen in einem kosmologischen Weltprozess?
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Die Überorganismen (Firmen)
werden uns Aufgaben oder besser Funktionen zuweisen, die
wir zum Zwecke des Gesamtsystems (Organismus) zu
erfüllen haben. Erfüllt ein einzelner Mensch
keine sinnvolle Funktion innerhalb eines Unternehmens
mehr, so schwindet sein Lebenszweck. Es kann auf ihn
verzichtet werden. |
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Der Mensch als Maschine: Materialismus als Weltbild. Zitate aus dem Jahre
1936 |
Ein menschlicher oder tierischer
Körper besteht aus verschiedenen Organen
und Geweben und in diesen leben all jene Zellen die den
Körper als Ganzheit ausmachen. Man mag nun meinen, dass
der Körper zum Wohle der Zellen da wäre. Das aber wäre
irrführend. Viel eher ist der Körper vor allem dazu
verdammt, seine Gene weiterzugeben und das auf optimale
Weise. Und das Leben jeder einzelnen Zelle ist
zwangsweise zunächst diesem Zweck untergeordnet. |
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<= Der Zweck eines Organismus Das egoistische Gen, ein Buch
von 1977 in dem Lebewesen als bloße Genvehikel, Roboter
zur Verbreitung von Merkmalen, beschrieben werden
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Speichelzellen werden
ausgespuckt und sie werden dafür kein Mitleid
von einer Haarwurzelzelle erhalten. Wenn Zellen an einem
Finger verbrennen, so kriegt eine Fußzelle davon
wahrscheinlich noch nicht einmal etwas mit. Zellen des
Immunsystems werden geopfert um Angriffe auf den
Organismus abzuwehren und es ist zweifelhaft (weil
wahrscheinlich auch überflüssig), ob sie dafür Dank
von Hirnzellen erhalten. Wie lange leben rote
Blutkörperchen? Wenn sie ihren Zweck erfüllt haben,
werden sie ohne viel Zeremoniell mit dem Kot
ausgeschieden. Die Hirnzellen eines Menchen beschließen,
dass es dem Körper gut stünde am Arm tatöwiert zu
sein. Dafür müssen dann manche Hautzellen sterben. Sie
sterben für die Schönheit des Ganzen. Und das Ganze
lebt zur Verbreitung der Gene. Kann eine Zelle keinen
Zweck mehr für irgendeines der Funktionseinheiten eines
Organismus mehr erfüllen, so wird sie ausgeschieden.
Geht eine Zelle nicht freiwillig, so kann sie zwanghaft
vom Körper beseitigt werden: Immunsystem, Eiter. |
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<= Zellen in einem Körper innere Sicherheit als Keimzelle
eines sozialen Immunsystems?
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Eine Firma lebt zur Vermehrung
von Geld. Menschen die keine geldfördernde
Rolle in einer Firma spielen können müssen in einer Art
ökonomischen Immunreaktion per Eiterbildung
ausgeschlossen werden. Vielleicht erfüllt Mobbing diese
Funktion. Dass sich solche Mechanismen heute ansatzweise
auch auf der Ebene von Volkswirtschaften oder
geographischen Räumen andeuten, dafür ist der Artikel
der Zeit ein Indiz. |
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Die neuronale Intelligenz von
Unternehmen Die genetische Intelligenz von
Unternehmen
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Der Artikel aus der
Zeit greift exemplarisch drei gegenwärtige
Zonen von Rechtlosigkeit heraus: Die US-Amerikaner halten
auf ihrem kubanischen Stützpunkt Guantánamo
Menschen aus dem Krieg in Afghanistan gefangen. Die Australier
kasernieren Flüchtlinge, darunter auch Kinder, über
sehr lange Zeiträume in einer Wüste und die Italiener
wehren sich zunehmend vehement gegen Landungsversuche von
Flüchtlingen an ihren Küsten. |
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<= Beispiele rechtsfreier Zonen |
Zunächst lokalisiert der
Artikel diese Geschehnisse als "am
Wohlstandsgürtel des weltweiten Westens", in
den "no-go-areas in Afrika" und "an
den Rändern zerfallender Nationen". |
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<= Ort der Rechtslosigkeit |
Der Autor zeigt dann, dass
Menschen in diesen rechtlosen Zonen oft weniger
Sicherheit zukommt als toten Wirtschaftsgütern: |
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"Im Zweifelsfall
ist eine Kiste mit chinesischen Bohnen durch die
"Lex Mercatoria", das eng verknüpfte Netzer
internationaler Rechtsbeziehungen, besser geschützt als
ein Schiff mit Flüchtlingen..." |
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<= Lex Mercatoria |
Menschen in rechtslosen
Räumen hilft niemand. Sie sind der Willkür eines
lokalen Souveräns ausgeliefert (welch eine Horrorvision,
ohne Schuld dazu zu gehören!). |
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Der Artikel verweist dann
auf das 1995 veröffentlichte Buch des italienischen
Philosophen Giorgio Agamben mit dem Titel "Homo
Sacer". Agamben vertrete darin die These, dass die
Rechtlosigkeit von Menschen bereits in der Antike bekannt
gewesen sei: |
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<= Literaturhinweis: Giorgio Agamben sacer = (Latein) den Göttern geweiht, heilig,
verwünscht, verflucht
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"Schon die Antike
hat die Person in die Gemeinchaft eingeschlossen, indem
sie, wiederum in einem politischen Setzungsakt, ihren
Körper als "bloßes Leben" exkommuniziert.
Weil der politische Einschluss in die Gemeinschaft auf
einem simultanen Ausschluss beruht, ist die
Rechtlosigkeit in das Recht schon eingebaut ... In dem
Augenblick, wo das Recht ausgesetzt und von der Person
"abgezogen" wird, bleibt der bloße Körper
zurück. Er ist ein Nichts, eine alphabetisierte
Biomasse..." Es ist weiter die Rede vom "Treibgut
der globalisierten Moderne". |
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<= Trennbarkeit von Recht und Person |
Assheuer, der Autor des
Zeit-Artikels, vollzieht nun den wichtigen Schritt einer
Verknüpfung des Rechtsstatus von Personen mit dessen ökonomischer
Funktion indem er schreibt: |
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"Und doch, es gibt
nicht nur die Exklusion durch das Recht. So bestechend
Agambens Analysen auch sind, so dürfen sie nicht den
Blick auf die sozialen Verwefungen der Weltgesellschaft
trüben - auf eine Ungerechtigkeit, die selbst
hartgesottene Systemtheoretiker aus der Fassung bringt." |
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<= sozio-ökonomische Ursachen? |
Assheuer bezieht sich jetzt
auf den Soziologen Niklas Luhmann, der schon vor Jahren
eine unerbittliche Diagnose gestellt
habe: |
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<= Soziologe Niklas Luhmann |
"Denn auf der
ganzen Welt ... habe sich das eine Gesetz der
Modernisierung, die eine funktionale Logik durchgesetzt
und dabei die alten Hauswirtschaften aufgelöst. Überall
sei ein dichtes Netz aus gegeneinander differenzierten
"Funktionssystemem" ausgespannt - Arbeits- und
Bildungs-, Wirtschafts- und Rechts-, Gesundheits- und
Kultursystem." |
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<= erinnert das nicht an lebende Organismen
mit arbeitsteiligen Zellverbänden? John Steinbeck: Banken als
Monster, Zitate aus "Früchte des Zorns"
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"Während fast die
gesamte Weltbevölkerung auf Gedeih und Verderb von den
Funktionssystemen abhängig ist, vor allem von den
individuellen Chancen auf dem Markt, wird einem großen
Teil der Zutritt zu einzelnen Systemen verweigert ..." |
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<= Eine Leber braucht keine Lungenzelle |
"...dann sind die
Dunkelzonen von Armut und Rechtlosigkeit nicht das Außen
der Weltgesellschaft, sondern deren innere Peripherie." |
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<= Elend als trennendes Gewebe zwischen
Organen? |
"Dann kommen die
Flüchtlinge nicht als Fremde aus einer anderen Welt,
sondern aus den äußeren Innenräumen einer
durchgesetzten Weltgesellschaft, die Menschen in ihr
System einschließt - und zugleich einen großen Teil
wieder ausgrenzt." |
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<= Einschluß = Endomorphose? |
"Aus der kalten Sicht der kapitalistischen
Weltgesellschaft handelt es sich um reine
"Surplus-Populationen", um funktional
überflüssige, entbehrliche Subjekte." |
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Vordenker
der Vernichtung: über ökonomisch
überflüssige Menschen im 3. Reich |
Der Artikel schockiert. Noch
stammen die Opfer der Entrechtung aus den ärmeren
Ländern dieser Welt und Bewohner des reichen
Westens haben kaum zu befürchten, dass sie in
unmittelbarer Zukunft als ökonomisch wertlos
vollständig entrechtet und aus allen Wohlfahrtssystemen
ausgeschieden werden. |
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<= Der Artikel schockiert |
Oder vielleicht doch? Wie
wird zukünftig mit Arbeitslosen
verfahren werden, die aufgrund fehlender Fähigkeiten
definitiv nicht mehr vermittelbar sind? Wie werden wir
mit diesen Menschen verfahren, wenn sie aufgrund der
rasant anwachsenden Fähigkeiten von Computern und
Robotern einmal 95% oder mehr der Bevölkerung ausmachen.
Was wird mit diesen Leuten passieren, wenn die
globalisierten Geldströme einen Bogen um ein Land
machen, das solchen ökonomisch nutzlosen Menschen ein
würdiges Leben bieten will? |
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"Hanauer Anzeiger", 9. Februar 2002,
Seite 8: Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH)
stellt fest, dass deutschlandweit rund 10% bis 15% der
gegenwärtigen Schulabgänger "nicht
ausbildungsfähig" seien. Dies, so der
ZDH-Präsident, gefährde den "Standort
Deutschland". (Der Artikel geht
bezeichnenderweise nicht darauf ein, was dies für die
betroffenen Menschen bedeutet.) |
Vielleicht bietet man dann
diesen Menschen einen Ausweg: dank der dann vorhandenen
Möglichkeiten der Life-Sciences kann
man aus nutzlosen Menschen herkömmlicher Bauart
leistungsstarke Funktionsbausteine von Firmen machen: das
Gehirn wird etwas optimiert, vielleicht wird ein
nutzloser Körper entledigt (man braucht ja nur das
Hirn), oder Menschen verkaufen sich selbst zum Preis
einer materiell gesicherten Zukunft zur Verrichtung
niederster Arbeit, die kein Roboter billiger erledigen
könnte. So etwas mag den einzelnen Menschen vor einer
drohenden Total-Entrechtung zu schützen. Zumindest auf
Zeit. |
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<= individuelle Auswege? Ein ernüchterndes Buch darüber, wie sehr
bereits Ende des 20. Jahrhunderts Menschen aufgrund
wirtschaftlicher Not zum Verkauf ihres Körpers bereit
waren
Die Macht der Sachwänge
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Nicht ganz unwahrscheinich
scheint folgender Ablauf der nächsten Jahrzehnte zu
sein:
- Geldströme - Grundlage des
Lebens - werden frei von Ländergrenzen fließen.
Sie meiden Regionen, wo Menschen ohne
ökonomischen Nutzen zu bringen dennoch Geld
kosten. Die Menschen dort werden in einem
selbstverstärkten Prozess noch ärmer und damit
noch nutzloser und damit immer erpressbarer.
- Ökonomischer Nutzen und soziale
Akzeptanz von Menschen werden
schleichend immer mehr gleichgesetzt:
gleichermaßen erkennbar im Berufsalltag wie in
der Asylantengesetzgebung.
- Es wird sich parallel dazu eine Praxis der
faktischen Entrechtung ökonomisch
nutzloser Menscher etablieren.
Öknomisch nutzlose Menschen werden
"Freiwild", das man vielleicht nicht
aktiv "erschießen" muss, weil man es
auch, moralisch weniger angreifbar, "am
langen Arm" verhungern lassen kann.
- Man bietet den Entrechteten als Ausweg an, sich
oder eher noch ihre Kinder als Rohstoff
für neue Menschen herzugeben. Es
entstehen dann in den zunächst armen Gegenden
neue ökonomisch optimierte Lebensformen.
- Menschen nach jetziger Bauart
werden aussterben oder nur noch in
Nischenexistenzen weiterleben, da sie - siehe
oben - vom Geld gemieden werden und sich früher
oder später selbst verkaufen.
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<= jeztiger Menschentypus wird
zurückgedrängt Der Mensch als betriebliches emotionales System:
eine Humanfunktion der Zukunft?
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So düster dies alles
klingen mag, so gibt es doch Grund zu Optimismus. Denn es
gibt viele Beispiele dafür, dass gerade jene sozialen
Spielregeln die wir als erstrebenswert erachten
menschliche Gruppen ökonomisch stärker machen können:
Unternehmen kommen immer mehr zu der Erkenntnis, dass
echte Teamarbeit eine Stärke sein kann. Ökonomien in
denen aufgrund humaner Arbeitszeitregelungen
Beruf und Familie vereinbar sind scheinen nicht gerade
die schwächsten Volkswirtschaften zu sein. Bildung,
Kreativität und Individualität in Kindern zu fördern
scheint Kinder eher zu ökonomisch nützlichen
Mitgliedern einer Gesellschaft zu machen als sturer
Lerndrill und so weiter. Vielleicht suchen sich die
seelenlosen Kapitalströme der renditehungrigen Börsen
bald gerade jene Regionen aus, in denen humanistische
Ideal in Einklang mit der Ökonomie verwirklicht werden.
Und wenn dies wirklich so kommt, vielleicht helfen uns
Gentechnik und die sich abzeichnenden Technologien einer
Hybridisierung von Menschen dabei, erfülltere Individuen
zu werden. |
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<= Optimismus |
Der Artikel in der Zeit
mahnt auf jeden Fall dazu, sich frühzeitig Gedanken
darüber zu machen, unseren ökonomischen Nutzen mit
unseren Wünschen nach einem erstrebenswerten Leben zu
verknüpfen. Fak ist aber: nur was dauerhaft ökonomisch
stark ist, wird überleben. Jetzt müssen wir also eine
Gesellschaft finden, die zuerst ökonomisch stark und
dann auch noch aus menschlicher Sicht wünschenswert ist. |
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<= Fazit |
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