Chronik einer Endomorphose, 25. Oktober 2001

Innere Sicherheit als Immunsystem?

  Weitere Zeitungsartikel aus dem Jahre 2001Zeitungsartikel aus dem Jahre 2001
Vor rund sechs Wochen ereigneten sich die Terroranschläge auf den World Trade Center in New York sowie das Pentagon in Washington.    
Seit wenigen Wochen treten in den USA vermehrt Milzbranderkrankungen infolge von absichtlich verseuchten Briefsendungen auf.    
Gegenwärtig Zeit führen die USA einen Krieg in Afghanistan und keiner weiß, wie es weitergehen wird.    
Doch sehr wahrscheinlich ist eines: die Überwachungstätigkeit des Staates gegenüber seinen Bürgern wird spürbar intensiver werden.    

Das Wochenmagazin "Der Spiegel" brachte in seiner Ausgabe vom 15.10.2001 ab Seite 60 einen dreiseitigen Artikel mit dem Titel "Die Grenzen der Freiheit". Der Artikel handelt im Wesentlichen von neuen, nunmehr einsatzfähigen, Ermittlungs- und Überwachungstechniken, von denen ich einige beispielhaft aufzählen möchte:

  • es genügen heute mikroskopisch kleinste Partikel eines Menschen um ihn mit einer DNS-Analyse zu identifizieren.
  • weltweit (so der Artikel) arbeiten Wissenschaftlter an Kamerasystemen um blitzschnell Menschen in großen Menschenmengen erkennen zu können.
  • Der Bund Deutscher Kriminalbeamter wünsche sich sich die Genehmigung der bisher nicht erlaubten Auswertung kodierter DNS-Bereiche um darüber z. B. Körpermerkmale von Tätern wie Haar- oder Augenfarbe in Erfahrung zu bringen.
  • Es gibt Vorschläge von Mitgliedern des Bundestages, jeden Mann zur Abgabe eines genetischen Fingerabdruckes (noch nicht umgesetzt) zu verpflichten.
   

Der Spiegel listet drei eindrucksvolle Einsätze von Überwachungskameras auf:

  • im Londer Stadtteil Newham sind 247 Kameras installiert.
  • in einem Fußballstadion in Florida filterten 36 Kameras 19 gesuchte Kleinkriminelle aus der Besuchermenge heraus.
  • in Zürich und London wurden versuchsweise Kameras an Flughäfen installiert um illegal einreisende Asyslanten rückwirkend identifizieren zu können.
  • Es gibt ein Kamerasystem für Hausbesitzer, welches Graffiti-Sprüher erkennt und von der "Tat" eine Aufzeichnung anfertigt.
  • In Leipzig sind Kameras installiert, die Personen aus der Menge herausfiltern können, die sich schneller bewegen als andere. Hiermit könnte die Fahndung unmittelbar nach einem Bankraub erleichtert werden.

Der Artikel endet mit einem Zitat eines Polizeibeamten: "Da sind Tür und Tor offen für alle Überlegungen".

Nicht in dem Artikel erwähnt, aber heute nicht mehr weit hergeholt sind:

  • Die Filterung von Benutzerprofilen im Internet. Vor allem die Werbeindustrie verspricht sich hiervon viel, aber natürlich ist dies auch eine Art Rasterfahndung. Vielleicht könnten so einmal Personen ins Fahndungskreuz gelangen, die sich für bestimmte Internetseiten verstärkt interessieren oder Auffälligkeiten in ihrem Mailverhalten zeigen.
  • Die Nachverfolgung von Kreditkartenaktionen nach Zeit, Ort und Gegenstand der Transaktion. Auffällig werden könnten z. B. Personen die bestimmte Utensilien zur Durchführung von Straftaten kaufen oder sich für bestimmte Themen interessieren (Buchhandlungen!)
  • Die Rasterfahndung wird erstmals seit den Anschlägen der Roten Armee Fraktion in den 1970iger Jahren wieder eingesetzt. So werden gegenwärtig etwa alle männlichen Studenten an den deutschen Universitäten "gerastert".
   
In der gleichen Ausgabe des Spiegel findet sich ab Seite 30 ein neunseitiger Artikel mit der Überschrift "Anschläge ohne Aufträge". Eine Kernaussauge dieses Artikels ist, dass es in Deutschland eine große Anzahl unscheinbarer Personen gibt, die jedoch im Einzelfall nachgewiesenermaßen gewaltbereit sind und über ein mehr oder minder loses aber robustes Kommunikationsnetzwerk miteinander verbunden sind.    
"Schläfer" ist ein Begriff mit dem diese Personen bezeichnet werden. "Schläfer" sind Bürger die jahrelang unauffällig vor sich hin leben und dann plötzlich auf ein äußeres Kommando hin oder aus innerem Antrieb heraus eine staatsschädigende Aktion vollstrecken.    
Eine Gesellschaft kann also über lange Zeit hinweg quasi verseucht sein mit Schläfern und es besteht dann jederzeit die Gefahr, dass diese koordinierte Angriffe auf ihren Wirtsstaat ausführen.    
Diese Internetseite (Startseite) ist eine tagebuchähnliche Auflistung von Indizien für die Vermutung, dass Teilbereiche menschlicher Gesellschaften immer mehr Züge individueller Organismen annehmen. In einer solchen Analogiebetrachtung nehmen dann hin und wieder Menschen die Rolle von Zellen ein.   Index-Seite einer UnterstrukturStartseite des Kapitels: Endomorphose
Unternehmenskommunikation als neuronales Netzwerk?Die neuronale Intelligenz von Unternehmen
Unternehmenspopulationen als genetische AlgorithmenDie genetische Intelligenz von Unternehmen
In der Analogiebetrachtung "Menschen = Zellen von Überwesen" könnte man jetzt auch beginnen, nach Ähnlichkeiten für Immunsysteme zu suchen. Im Rahmen der Computertechnik wird bereits heute von Viren und Virenschutzprogrammen gesprochen, aber die Analogie wurde noch nicht erweitert auf Menschen die sich vielleicht selbst wie feindliche Viren oder Bakterien in einem Wirtsköprer verhalten.    
In einem anderen Spiegel-Artikel wurde von einer neuen Entdeckung bezüglich der Angriffsstrategie von Bakterien auf ihre menschlichen Wirte berichtet: die Bakterien leben eine Zeit lang im Körper ihrer Wirte. Über ein gemeinsames Kommunikationssystem einigen sie sich dann auf einen koordinierten Angriff, wahrscheinlich versuchen sie Schwächephasen der Menschen auszunutzen.   Bakterien starten koordinierte Angriffe auf ihre WirteBakterien sind auch "Schläfer"
Ganz ähnliche Strategien weisen manche Viren auf, die oft jahrelang in ihren Wirten leben können (z. B.: Aids Virus) bevor sie eine Attacke starten.    
Die Verteidungsmechanismen der Medizin tragen dem zunehmend Rechnung und so richtet sich das Interesse der Forschung heute auch auf die Frage, wie diese schlafenden Mikrowesen untereinander kommunizieren und warum sie vom Körper nicht als Fremdkörper erkannt werden. Die Tarnungsfähigkeit der Schädlinge spielt also eine überragende Rolle.    
Denn wenn der menschliche Organismus Fremdkörper eindeutig und rechtzeitig erkennt, dann kann er sich durch den Einsatz von Immunabwehrzellen auch zur Wehr setzen: die Eindringlinge werden mit Brachialgewalt vernichtet. Gefährlich werden also Bakterien und Viren erst dann, wenn sie sie zu spät vom Körper erkannt werden und ihre schiere Masse in einem konzertierten Angriff den Wirtskörper plötzlich über Gebühr schädigt.    
Ganz ähnliche Phänomene treten auch in Insektenstaaten auf: Kriege zwischen Insektenstaaten oder die Ausnutzung fremder Insektenvölker zu eigenen Zwecken beinhalten meist Täuschungsmanöver zur Tarnung der eigenen Identität: Eindringlinge geben irgendwie vor, Freunde zu sein und beginnen dann ihr unheilvolles Werk. Demgegenüber steht als erste Abwehrmaßnahme potentieller Opfer ein Erkennungsdienst zum rechtzeigen Entlarven von Fremdlingen.    

Treffen wir nun also einmal die folgenden Analogie-Zuordnung:

Organismus Gesellschaft
Krankheitserreger (Antigene) Schläfer, Terrorist
Antikörper Fahnder, Überwachungssysteme
Lernfähigkeit des Immunsystems, immunologisches Gedächtnis Aktivierbare, archivierte Profile für Rasterfahndungen
Phagozyten Polizei, Strafvollzug
Allergie Kollektive Paranoia?
Immunologische Intoleranz Rassismus? Angst vor Fremden? Dichte Grenzen?
  Zitate aus "Peace on Earth"Das soziale Immunsystem in einer skurrilen Geschichte von Stanislaw Lem aus den 1980iger Jahren
Ich denke, dass man viele Detailbeispiele für diesen Vergleich wird finden können. Das deprimierende dabei ist die denkbare Einsicht, dass 4 Milliarden Jahre Evolution auf der Erde keinen Organismus hervorbringen konnten, der gefeit ist gegen einen Angriff auf der Ebene seiner Zellen oder noch darunter. Wenn das gleiche auch für sozial-kollektive Organismen gilt, dann dürften die Phänomene des Terrorismus aber auch die Antwortreaktionen des Staates (Rassismus und Überwachung) keine vorübergehenden Erscheinungen bleiben.    
Denn ein menschlicher Organimus muss hin und wieder zu seiner Selbstverteidung eigene "Bürger" (nämlich Zellen) wissentlich töten, um sein Ganzes zu schützen. Der Grund hierfür liegt in der Tarnungsstrategie der Feinde: wenn man Freund nicht von Feind unterscheiden kann, dann muss man im Zweifelsfall beide gleich behandeln.    
Mit was aber muss man rechnen, wenn man diese Analogie bis hin zu weitreichenden Konsequenzen ernst nimmt? Folgende bedauerlichen Tendenzen sehe ich als eine durchaus reelle Gefahr an.    

Orwell-Huxley`sche Staatssysteme: Von etwa 1930 bis in die frühen 1960er Jahren erschienen eine ganze von Büchern die totalitäre Gesellschaftsordnungen beschrieben. Einige Beispiele sind:

  • "Schöne Neue Welt" von Aldous Huxley
  • "1984" von George Orwell
  • "Die Glasfalle" von H. W. Franke
  • "Fahrenheit 451" von Ray Bradbury

In vielen Romanen unterdrückt der Staat seine Bürger mehr oder minder gewaltsam, um den Willen einzelner dem Willen der Gesamtheit unterzuordnen. Lediglich "Schöne Neue Welt" betrachtet die Möglichkeit, dass die Bürger durch die Mittel einer sehr fortschrittlichen Biologie und Psychologie nach den Vorstellungen des Staates erzeugt und erzogen werden. Der Bürger verspürt also gar keinen Widerstandswillen gegen seinen Staat. Durch genetische Umformung, Erziehung, Drogen oder Gehirnwäsche ist er ein frei-williger Untertan. Diese Entwicklung betrachte ich als sehr realistisch. Mit den Mitteln der Gentechnik oder sonstiger "Life-Sciences" wird es schon bald (einige Jahrzehnte vielleicht) möglich sein, das Verhalten von Menschen mehr oder minder gezielt zu beeinflussen. Das Sicherheitskonzept eines solchen Staates lautet dann ganz einfach:

Eigenes Individuum => Freund
Fremder => Feind

Denn eigene Individuen werden in solch einem Staat ganz sicher so erzeugt, dass sie "funktionieren" und dem Staat keinen Schaden zufügen. Wie in einem Insektenstaat resultiert daraus die einfache Verteidigungsformel:

Lasse nichts Fremdes herein, falls es doch passiert, so erkenne es rechtzeitig und eliminere es.

Die folgende Vision ist dann durchaus denkbar:

  Buchtipp: "German Spies in England" von William le Queux, Erstausgabe: 1915. Dieses kurz nach Ausbruch des ersten Weltkrieges erschienene Buch zeigt auf eindrucksvolle Weise auf, wie man in England damals nach getarnten Spionen im ganzen Land suchte. Insbesondere waren alle Fremden mit Verbindungen nach Deutschland potentielle Feinde.

Buchtipp: "Heritage of the Kaiser`s Children", Erstausgabe 1983 durch den Canongate Verlag, ISBN: 0 86241 046 0. Diese Autobiographie der deutschen Jüdin "Ruth Michaelis-Jena" zeigt, wie im zweiten Weltkrieg deutsche Bürger - obwohl sie Füchtlinge aus Nazi-Deutschland waren - vorsorglich interniert wurden, um ihnen etwaige Spionage- und Sabotagetätigkeiten unmöglich zu machen.

Der Mensch als Individuum in einem totalitären Insektenstaat: Der Staat der Zukunft wird mit den Mitteln der Life-Sciences seine Individuen zu zuverlässigen Bürgern formen, von denen keine reelle Gefahr für das Ganze ausgeht. Dazu können etwa folgende Maßnahmen dienen:

  • Bürger erhalten bei der (kontrollierten) Befruchtung bestimmte Gensequenzen als unzweideutige Erkennungsmerkmale eingepflanzt.
  • Bestimmte Gensequenzen der Bürger werden gleich so programmiert, dass der werdende Mensch bestimmte Erkennungsmerkmale des Staates unwillkürlich mit den Attributen "Freund", "Loyalität", "ich gehöre dazu" belegen wird. Solche Erkennungsmerkmale könnten die Sprache, Äußeres der Mitmenschen aber auch Logos, Bewegungsrhytmen, Sprachklang oder Gerüche sein (man könnte vielleicht bei Rattenvölkern Inspirationen suchen).
  • Bestimmte Gensequenzen der Bürger werden gleich so programmiert, dass der werdende Mensch bestimmte Erkennungsmerkmale fremder Staaten unwillkürlich mit den Attributen "Feind", "Hass", "Angst", "minderwertig" belegt. In Orwells "1984" waren solche anerzogenen Merkmale etwa die asiatischen Gesichtszüge der Bürger von "Eurasia".
  • Jeder Mensch eines Staates trägt äußerliche Erkennungsmerkmale, z. B. bestimmte Muster auf der Haut, Haarwuchs oder sonstiges was als unablegbare Uniform dienen könnte.
   

Da solchermaßen zweck-definierte Bürger für einen Staat keine Gefahr bedeuten, muss der Staat lediglich sicherstellen, dass keine fremden Individuen anderer Staaten unerkannt und unkontrolliert in das eigene Staats-Zell-Gewebe eindringen können. Hierzu könnten eingesetzt werden:

  • Grundsätzlich dürfen Bürger fremder Staaten nicht in das eigene Staatsgebiet eindringen.
  • Wenn fremde Bürger auf das eigene Staatsgebiet eindringen dürfen, dann nur unter der Maßgabe, dass sie ständig kontrolliert werden können; sie müssen sich dazu elektronische Erkennungsmerkmale unter die Haut implantieren lassen oder sie werden vollständig biometrisch erfasst, sodaß sie ständig von den Überwachungsmechanismen des Staates lokalisiert und kontrolliert werden können.
  • Die Grenzen eines Staates werden im Sinne einer Membran physikalisch dicht beziehungsweise kontrolliert permeabel gemacht: Weltraumsatelliten könnten ständig das Grenzgebiet nach verdächtigen Bewegung abscannen. Laserwaffen oder unbemannte Waffensysteme wie z. B. Drohnen könnten verdächtige Menschen in einer definierten Todeszone rund um einen Staat unmittelbar aufgreifen oder automatisch elimineren (scheußliches, zynisches Wort).
  • Gentechnisch programmierte Resistenz gegen bestimmte Krankeitserreger: Um unerkannt eingedrungene Fremde in der Breite selektiv eliminieren zu können, könnte der Staat der Zukunft auf die Idee verfallen, eigene Bürger gezielt resistent zu machen gegen bestimmte Krankeitserreger. Eine künstliche, flächenhafte Verseuchung des eigenen Staatsgebietes würde dann zwar fremde Individuen vernichten, die eigenen Menschen aber würden davon gar nichts merken.
  • Methoden der künstlichen Intelligenz führen quasi ein ständige Hintergrund-Rasterfahndung durch. Die installierten Systeme werden lernfähig sein, aus begangenen Fehlern Schlüsse ziehen und irgendwann einmal besser sein als menschliche Fahnder.
  Problem: was werden wir einmal mit Personen tun, die in einer Rasterfahndung als hochverdächtig erkannt wurden, denen man aber nicht das geringste konkrete Belastungsmaterial anhängen kann? Diese Frage wird besonders akut, wenn autarke, programmierte Computeragenten (z. B. neuronale Netze) verdächtige Personen "melden", kein Mensch aber mehr wissen kann warum. Man weiss aus Erfahrung nur, dass die Computerprogramme oft Recht haben (aber eben nicht immer).
In Verbund mit einer weitgehenden Programmierung der eigenen Bürger, stellen solche fremdenfeindlichen Maßnahmen sicherlich ein sehr hohes Maß an Sicherheit für einen Staat dar.    
Welcher Rolle werden wir Menschen in einem solchen Staat noch spielen? Welche Bedeutung hat dann der Begriff individueller Freiheit, wenn diese Freiheit bereits mit dem Akt der genetischen Schöpfung begrenzt wurde? Wenn man gegen eine solche Entwicklung ist, dann werden angesichts wiederkehrender Bedrohungen die einem Staat von außen oder innen drohen sehr gute Argumente benötigt. Man kommt an der Frage was eigentlich den Wert eines Menschenlebens ausmacht nicht vorbei. Die Diskussion die geführt werden muss, hat philosophisch-religiösen Charakter: wir können uns gegen eine staatlich begründete Gängelei nur zur Wehr setzen, wenn wir den Nutzen individueller Freiheiten für ein höheres Ganzes aufzuzeigen in der Lage sind.   Individuen geben ihre Eigenständigkeit zugunsten der Gruppe auf.Einzeller verloren in Mehrzellern ihre Autarkie und Freiheit

Eine Liste von Paradoxien, Aporien und sonstigen DenkproblemenPhilosophische Fragen an den Zweck der Welt

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