Chronik einer Endomorphose,
19. Januar 2001 Olaf Stapledon: von der Kunst und dem Verhängnis der Umformung lebender Körper Im Jahre 1930 erschien der Klassiker "Last and First Men" des englischen Autors Olaf Stapledon. Stapledon schildert die Geschichte der Menschheit über Jahrmillionen hinweg bis zu ihrem endgültigen Niedergang auf dem Planeten Neptun in einer fernen Zukunft. "Menschheit" war für Stapledon aber etwas anderes als die heutige Spezies Homo sapiens. Mit Begriffen wie "man", "mankind" und "human" bezeichnete Stapledon jegliche Lebensform bestehend aus sozialen Individuen die in etwa unserem geistigen Intellekt entsprechen. Die Körperform spielte für ihn keine Rolle. Und so ist die Geschichte der Menschheit auch ständiges Werden und Vergehen neuer Geschlechter. Dazwischen können Jahrmillionen menschenloser Evolution vergehen, bevor dann aus niederem Getier eine neue Menschheit entsteht und die Fackel des Geistes im Kosmos erneut zum Leuchten bringt. Die erste Menschheit - unsere - durchlebt eine Phase tragischer Kriege. Die wesentlichen Gegner sind Frankreich, England, Russland, Deutschland, Amerika, Europa und China. Nach einem endgültigen Sieg Amerikas über China wird die Erde vom Geiste Amerikas dominiert. Die erste Menschheit verlässt nach vielen Zwischenspielen dann endgültig die Bühne der Geschichte, nachdem sie riesige Kohlenvorkommen in der Antarktis entzündet und somit eine Klimakatastrophe ausgelöst hat. 10 Millionen Jahre nach unserer Zeit entsteht dann die zweite Menschheit. Sie muß einen Krieg gegen Invasoren vom Mars, bestehen, vergeht aber letztendlich auch. Es ist das dritte von insgesamt 16 Menschengeschlechtern welches sich mit der Umformung lebender Körper im Sinne einer Kunst, der "plastic vital art" beschäftigt. Die beschriebenen Ereignisse werden nicht vor dem Ablauf von mindestens 40 Millionen Jahre nach unserer Zeitrechnung stattfinden. Ich möchte nun Stapledon selbst zitieren. Projiziert auf eine ferne Zukunft beschreibt er Tendenzen und Abläufe, die im Zusammenhang mit der aktuellen Gentechnik bereits hundert Jahre nach der Veröffentlichung seines Buches - und nicht erst 40 Millionen Jahre danach - eintreten könnten. Stapledon beschreibt die 3. Menschheit, welche sich letztendlich selbst ersetzt, so:
Diese Rasse nun beginnt sich selbst umzuformen:
Die Energie dieser Rasse wird auf ihre Neuerschaffung verwandt:
Stapledons Vermerk, daß diese Rasse sich nicht wie andere ihrer Vorgänger vom Industrialismus hypnotisieren läßt, erinnert stark an den Kult der Börse, das individualistische Credo unserer Zeit, daß nur wirtschaftlicher persönlicher Erfolg zählt:
Stattdessen entdeckt die Rasse eine eigene Art religiöser Praxis:
Zuerst noch wendet der Dritte Mensch die Kunst auf andere Geschöpfe an:
Als Beispiele führt Stapledon ein fleischfressendes Wesen an, welches aber als Arme bloß gefederte Flügel hat. Es kann aber nicht fliegen, sondern bloß mit ausgestreckten Flügeln umherrennen. Weitere Beispiele sind Adler mit doppeltem Kopf und Rehe mit Köpfen am Schwanz. Neben purem Sadismus, vermischt mit primitiven Machtgelüsten, beschreibt Stapledon aber auch den Willen der Dritten Menschen, den Planeten mit einer biologisch vielfältigen und harmonischen Flora und Fauna auszustatten als ein wesentliches Motiv:
Wer weiß, ob nicht unsere Gesellschaft einmal einen Kult der Ökologie oder einen ökologisch durchwirkten Ökonomie entwickelt. Denkbar wäre es. Stapledon konnte zu seiner Zeit, um 1930, noch nicht die rasanten Fortschritte der Gentechnik vorausahnen und so schrieb er:
Es wäre interessant gewesen, wie Stapledon die Menschheitsgeschichte der ersten Rasse (wir, Homo sapiens) beschrieben hätte, wenn er gewußt hätte, daß im Jahre 2000 ein Eingriff in die Keimbahn keine ferne Vision mehr sein würde. Es ist aber eigentlich unerheblich, wann etwas passiert, denn der grundsätzlich Ablauf dürfte davon recht unberührt bleiben. So beschreibt Stapledon, wie der dritte Mensch seine genetischen Fertigkeiten zunehmend auf sich selbst anwendet. Die Einzelstationen finden sich in der deutschen Presse um das Jahr 2000 wieder:
Besonders bemerkenswert ist Stapledons Vorhersage, daß die Bedürfnisse der Gesellschaft die Gestaltung von Individuen stark mitbeeinflusst. Er schreibt:
Dabei herrscht eine perfekte Harmonie zwischen den Anforderungen der Gemeinschaft und persönlichem Glück:
Diese Vorstellung erinnert stark an den sehr ambivalenten Zukunftsroman "Schöne Neue Welt" (Brave New World) von Aldous Huxley, der 1932 zum ersten Mal erschien. Entsprechende Tendenzen lassen sich bereits heute ausmachen. Der Endzustand könnte insektenhafter Sozialismus sein. Denkbar ist aber auch die Vision von neuronalen Unternehmen, in denen einzelne Menschen die Rolle von Nerven- oder sogar bloßen Gliazellen einnehmen. Letztendlich aber beginnt das Unheil , als eine Strömung innerhalb der dritten Menschheit damit experimentiert, die Funktionen des Gehirns isoliert vom restlichen Körper weiterzuentwicklen:
Bereits heute (2001) findet man immer wieder Zeichnungen von Gehirnen in Schüsseln, welche mit einer Art Computerperipherie mit anderen Menschen kommunizieren. Was Stapledon dann aber beschreibt geht weit über diese Vorstellung hinaus. Die bisherigen Geschehnisse wurden im Kapitel X "The Third Men in the Wilderness" beschrieben. Kapitel XI "Man Remakes Himself" handelt davon, wie die Dritten Menschen Gehirne so groß wie Häuser erzeugen, wie diese Gehirne letztendlich die dritte Menschheit auslöschen und dann an sich selbst zugrunde gehen. Zunächst verfolgt man vier Methoden zur Erzeugung von Super-Gehirnen:
Die drei ersten Methoden werden bereits im Jahre 2001 angewandt. Nach und nach stellen sich Erfolge ein. Dabei kann die Peripherie der Gehirne immer mehr durch künstliche Gebilde ersetzt werden:
Der Zukunftsprophet Ray Kurzweil beschreibt in seinem Buch "Homo S@piens" (The Age of Spiritual Machines) genau diese Entwicklung. Er glaubt, daß sie im Laufe des 21. Jahrhunderts stattfinden wird. Unter der Sammelbezeichnung "Extropier" versuchen einige führende Wissenschaftler und Techniker, diese Entwicklung voranzutreiben. Stapledon hat sich um 40.000.000 Jahre geirrt. Interessant ist auch die Überschrift einer Ausgabe der Aachener Nachrichten aus dem Jahre 2000. In dem Maße aber, wie die so gezüchteten Gehirne schlauer werden als ihre Erschaffer, werden letztere in den Stand bloßer Sklaven reduziert:
Stapledon bezeichnet die künstlichen Gehirne, welche in eigenen Gebäuden mit eigener Bewetterung untergebracht sind und von chemischen Fabriken am Leben erhalten werden, als die "Vierte Menschheit". Die Entwicklung verlief unscheinbar, schleichend. Interessant ist hier der Vergleich mit einer Metaphor die Ray Kurzweil immer wieder in seinem Buch verwendet: "the slippery slope", was so viel bedeutet wie der glatte Abhang, ein Abhang der für eine Entwicklung steht, die langsam, unbemerkt aber unumkehrbar abläuft. Interessant ist auch, daß sowohl Stapledon als auch Kurzweil als wesentliches Argument für die Unumkehrbarkeit der Entwicklung nicht militärische oder sonstige Gewalt der fortschrittlicheren Rasse angeben, sondern deren Fähigkeit, mittles bloßer Überzeugung aus überlegener Intelligenz bessere Entscheidungen zu treffen. So nimmt denn die Entwicklung der dritten Rasse ihren schicksalshaften Gang:
In einem Krieg dezimieren die großen Gehirne ihre Erzeuger. Und letztendlich halten sich die "großen Gehirne" einzelne Exemplare ihrer Erschaffer wie wir heute Versuchstiere halten:
"Some" bezieht sich hier auf einzelne Individuen der Dritten Menschheit. Wenn wir bei dieser Vorstellung erschauern, sollten wir nicht vergessen, wie herzlos wir selbst mit Versuchstieren und Schlachtvieh umgehen lassen. Zu diesem Zeitpunkt in Stapledons Geschichte existiert die Dritte Menschheit bloß noch als biologische Kuriosität für die großen Gehirne. Eines aber bleibt den "Großen Gehirnen" stets verwehrt: Glücklichkeit. Sie sind als bloße Intelligenzroboter konstruiert und erkennen letztendlich diesen Mangel selbst. Deshalb planen sie die Schaffung ihrer eigenen Nachfolger, der fünften Menschheit. Das aber ist eine eigene Geschichte... Wenn Sie an weiteren Werken von Olaf Stapledon interessiert sind, dann schauen Sie sich die Literaturliste an. |