Chronik einer Endomorphose, 11. November2000

In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 8. November 2000 fand sich auf Seite 70 ein langer Artikel mit dem Titel:

Das Credo der Extropier
Können uns Hochtechnologie und eine libertäre Politik in ein transhumanes goldenes Zeitalter führen? / Von Ben Goertzel

Siehe auch: http://www.extropy.org

Obwohl ich seit etwa 1986 fest daran glaube, daß sich der Mensch demnächst genetisch und technologisch verändern wird und in gut 100 Jahren von der jetzigen biologischen Erscheinungsform wenig übrigbleiben wird, war mir bis zur Lektüre des oben genannten Artikels nicht bewußt, welch anscheinend große und einflußreiche Gemeinde von Anhängern diesen Glauben teilt. Und vor allem war mir nicht bewußt, daß es wohl eine Bewegung gibt, die diese Entwicklung offensiv vorantreiben will.

Diesen Eindruck zumindest erweckt der Artikel in der FAZ.

Der Artikel beschreibt die Extropier als "eine Gruppe transhumanistischer Futuristen aus Kalifornien". Die Gruppe bestünde aus "Computer-Spezialisten" und "High-Tech-Freaks" und habe es sich zum Ziel gesetzt, "alle nur denkbaren Technologien so schnell wie möglich voranzutreiben: das Internt, die biotechnologische Manipulation des Körpers, die Synthese von Mensch und Computer, Nanotechnologie, genetische Eingriffe, Kryogenik..." Nebenbei, so der Artikel, wollen die Extropier auch "Regierungen, moralische Bedenken und später auch die Menschheit selbst abschaffen...bzw. durch Künstliche Intelligenz und Roboter... erneuern."

Die Bewegung werde von namhaften Persönlichkeiten getragen, wie zum Beispiel:

  • Hans Moravec
  • Marvin Minsky
  • Eric Drexler
  • Kevin Keller
  • Ray Kurzweil
  • Sashah Chislenko
  • Eliezer Yudkowski
  • Max More

Es lohnt sich sehr, im Internet einmal nach diesen Namen zu recherchieren! Vielleicht wird man sie in einigen Jahren als Propheten bezeichnen und über sie ähnlich reden wie heute über den französischen Zukunftautoren Jules Verne, der im 19. Jahrhundert wirkte und unter anderem die Mondfahrt und U-Boote mit verblüffender Detailgenauigkeit voraussagte.

Der Autor des Artikel, Ben Goertzel, bemängelt aber das Fehlen jeglicher moralischer Skrupel und Werte bei den Extropiern. Ihr einziges Ziel der Einsatz der neuen Technologien.

Viel wichtiger aber als einzelen Voraussagen der Extropier finde ich die Tatsache, daß es eine Bewegung, eine organisierte Form der Verbreitung solcher Ideen und Ansichten gibt. Denn hierin ist vielleicht der Keim einer erwachenden Politisierung der Thematik zu erkennen. Solange Computer- und Gentechnologie lediglich in wirtschaftlicher und intellektuell-moralisierender Weise betrachtet werden, werden sie das öffentliche Interesse kaum erregen. In den meisten Zeitungsartikeln und Radiobeiträgen wird in sachlicher Form über die Ethik einer Selektion von Embryonen gesprochen oder darüber philosophiert, was von der Würde des Menschen bleibe, wenn man seinen genetische Code knacke und die Funktion des Gehirns einmal verstanden habe.

Aber diese Darstellungsweise vermag nicht zu emotionalisieren und letztendlich zu politisieren. Solange die drohende Transformation des Menschen den Einzelnen nicht emotional aufwühlt, Ängste in ihm weckt, solange werden in den Tageszeitungen der Sport, die Spritsteuer, Kirchturmpolitik, kleine Korruptionsskandale und Börsentipps weiterhin die Schlagzeilen dominieren.

Eine so fundamentale Revolution wie sie die neuen Technologien aber herbeiführen werden, verdienen eine alles überragende öffentliche Diskussion. Das Thema gehört gleichermaßen in Talk-Shows und Klatschzeitschriften behandelt wie in intellektuellen Wochenzeitungen und Fernsehbeiträgen. Unsere Gesellschaft muß frühzeitig Stellung beziehen und rechtzeitig über politische Steuerungsmechanismen die Entwicklung in gewünschte Richtungen beeinflussen - oder bewußt darauf verzichten.

Vielleicht, und das vermute ich, versuchen die Träger der Extropierbewegung durch ihre aggressiv moralverachtende Befürwortung jeglicher Technologie und des Kommerzes eine solche Politisierung herbeizuführen. Einige der oben genannten Personen haben Bücher und Artikel über die bevorstehende Entwicklung verfasst. Man kann sie seit Jahren kaufen. Man frage nur einmal in Buchhandlungen nach den Namen. Doch selbst in meinem Bekanntenkreis an der Uni Aachen (viele Ingenieure und Computer-Spezialisten) sind die Namen weitgehend unbekannt. Vielleicht versuchen die Extropier durch ein bewußt sektiererisches Auftreten gerade die Werte der Menschlichkeit in ihrer Verletzlichkeit darzustellen, die ihnen im Grunde ihres Herzens am wichtigsten sind. Vielleicht sind sie zumindest in oberflächlicher Betrachtung wie Mephistopheles in Goethes Faust "ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft". In Wirklichkeit aber wollen sie vielleicht gar nicht das Böse. Nur läßt sich vielleicht der Wille zum Guten in der Masse nur mobiliseren, wenn das Böse droht.

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