Chronik einer Endomorphose, 30. April 2000

Wenn auf diesen Seiten die Rede davon ist, daß wirtschaftliche Unternehmen in Zukunft den Menschen mit den Mitteln der Gentechnik kräftig umbauen werden, so ist damit nicht gemeint, daß der Chef eines zukünftigen Tauchunternehmens einen ledigen Mitarbeiter in die Gen-Klinik schickt und der Mitarbeiter kommt mit Kiemen zurück.

Zwei andere Wege sind viel wahrscheinlicher.

  • Huxley'sche Zucht: Fimen oder staatliche Institutionen züchten und bauen sich selbst aus befruchteten Eizellen Lebewesen wie sie sie brauchen.
  • Elternwünsche: "Herkömmliche" Eltern definieren Wunscheigenschaften ihrer Kinder, die Gentechniker dann umsetzen. Bei diesem zweiten Weg werden natürlich die zukünftigen Berufsaussichten des Kindes eine nicht unwichtige Rolle spielen, sodaß wirtschaftliche Wünsche über die Hintertür der Elternwünsche auf die Gene der Menschen einwirken.

In seinem Buch "Schöne Neue Welt" (Brave New World, ISBN 0 586 04434 5) beschrieb der englische Autor Aldous Huxley bereits um 1932 einen Staat, in dem Kinder künstlich in großen staatlichen Institutionen gezeugt werden und außerhalb des Mutterkörpers heranreifen. Dabei werden sie von frühester Zeit an für ihre späteren gesellschaftlichen Aufgaben vorbereitet. Einfache Arbeiter bekommen beispielsweise über elektrische Stromschläge bereits im Säuglingsalter eine tiefe Abneigung gegen Bücher ankonditioniert. Zukünftige Weltraumarbeiter werden als Embryonen in rotierenden Behältern aufbewahrt. Jedesmal wenn Sie Kopf unter stehen, erhalten sie eine hohe Dosis einer injizierten Nährlösung. Stehen sie Kopf oben wird ihnen durch Vorhenthalt der Nährlösung Hunger simuliert. Die zukünftigen Astronauten assoziieren somit "von Geburt an" die Arbeit in Schwerelosigkeit mit Wohlgefallen. Zukünftigen Tropenbewohnern, Stahl- oder Bergbauarbeitern wird bereits als Embryonen mit einem ähnlichen Mechanismus eine Abneigung gegen Kühle und eine Liebe für Hitze ankonditioniert: Die Embryonen werden abwechselnd in heiße und kühle Umgebungen gebracht. In der Kühle werden sie gleichzeitig mit schmerzenden Röntgenstrahlen traktiert. Auf ähnliche Weise werden zukünftige Chemiearbeiter an Eisen, Teer und Chlor gewöhnt. Arbeiter bei denen eine intellektuelle Kapazität eher stören als helfen würde werden bereits als Embryonen durch eine gedrosselte Sauerstoffzufuhr in ihrer Hirnentwicklung behindert.

Aber auch das Konsumverhalten zukünftiger Bewohner der "Schönen Neuen Welt" wird auf wirtschaftliche Bedürfnisse abgestellt. Durch einfache Konditionierung wird Säuglingen gezielt Spaß an teuren Sportarten anerzogen, sodaß sie später in ihrer Freizeit möglichst viel konsumieren müssen. In den Worten des Buches hat diese Methode zwei wesentliche Vorzüge:

  • Individiuen haben keine Bedürfnisse mit deren Befriedigung sie die Zeit der Gemeinschaft verschwenden würden (z. B: Arbeiter mit intellektueller Tätigkeit),
  • Individuen werden darauf getrimmt, ihre unausweichliche soziale Bestimmung zu mögen.

Hätte Huxley das Buch heute geschrieben, so hätte er statt chemisch-verhaltenstechnischer Manipulation von Embryonen wahrscheinlich auch Methoden der Gentechnik beschrieben. Kaum anders beschrieben hätte er aber das Motiv: wirtschaftliche Vorteile zum Nutzen der gesamten Gemeinschaft. Zitat aus Kapitel 2: "If the children were made to scream at the sight of a rose, that was on grounds of high economic policy".

Wie würden denn wir heute reagieren, wenn uns Gentechniker die folgenden Möglichkeiten als technisch machbar anbieten würden:

  • Tropenbewohner empfinden feuchte Hitze und Schweiß als angenehm.
  • Büroarbeiter erhalten einen besonders elastisch geformen Rücken bei gleichzeitiger Rückbildung überflüssiger Muskeln.
  • Die Sehzellen von LKW-Fahrern werden für Nachtfahrten auf den Infrarotbereich erweitert.
  • Menschen in überbevölkerten Armutsregionen bekommen die Gene für Appetit auf ernährungsphysiologisch überflüssigen Luxusnahrungsmittel wie Fleisch, Kaffee oder Tee inaktiviert. Stattdessen mögen sie besonders Getreide- und Meerestangprodukte.
  • Börsenmakler tragen besondere Gene für Spaß am Spiel, Risiko, Streß und Geld.
  • Manager erhalten ein Gen, daß sie sich nur in einem Zustand ständiger Überforderung und Reizüberflutung wohlfühlen.
  • Akademiker erhalten je nach Fachrichtung eine besonders starke Ausprägung entsprechender Hirnareale (natürlich auf Kosten anderer Fähigkeiten).
  • Ärzte und Krankenschwestern haben ein Gen, welches sie erst zufrieden sein läßt, wenn sie kranke und leidende Menschen um sich haben, denen sie helfen können.
  • Soldaten tragen Gene in sich, welche einen enggefaßten Kodex von Befehlen und Ehre kodiert sowie ein Gefallen an körperlichen Entbehrungen und Risiken aktivieren.

Der volle Nutzen dieser Form von Gentechnik wird sich erst entfalten, wenn Menschen bereits vor ihrer Geburt eine soziale Bestimmung zugewiesen bekommen. Dies hat Huxley eindrücklich beschrieben. Ein solches System wäre in vielerlei Hinsicht effektiver und gerechter als unser heutiges System, in dem die sozialen Anforderungen wenig mit unseren anerzogenen oder genetisch kodierten Bedürnisse gemein haben. Man könnte auf aufwendige Werbung zur Weckung von Bedürfnissen verzichten. Man müßte nicht alle Schüler mit allen Fächern belasten (was auch teuer ist) und in der Benotung alle über einen Kamm scheren. Warum soll ein Schüler mit schlechten Noten dafür bestraft werden, daß er genetisch einfach nicht das Zeug hat, um besser in Mathematik oder Physik abzuschneiden. In der Huxley'schen Welt würde man zukünftige Bauarbeiter erst gar nicht mit naturwissenschaftlichen Fächern belasten.

Alternativ zur Vision Huxleys eines steuernden Staates könnten Genmanipulationen aber auch über Elternwünsche herbeigeführt werden. Für einen heutigen Ingenieur ist es wenig anrüchig, wenn er vor Verwandten verkündet, daß auch sein Sohn einmal Ingenieur werden soll. Nun denn, wenn man dem genetisch noch nachhelfen kann, dann umso besser. Andere Eltern mögen sich einmal als besonders pfiffig empfinden, wenn sie ihrem Kind gentechnisch eine bestimmte Form von Intelligenz verpassen. Ähnlich wie man heute Geld an der Börse in bestimmte Zukunftsbranchen investiert, so wird man vielleicht zukünftig mit der Wahl der Gene seiner Kinder in besondere Zukunftsberufe investieren.

Und wie lange wird es noch dauern, bis Versicherungen besonders günstige Lebensversicherungen für noch nicht geborene Kinder anbieten, die mit Einwilligung der Eltern gentechnisch gesund-programmiert werden?

Moralische Empfindungen werden dies verhindern, mag man sagen. Was aber würde die Weltengemeinschaft tun, wenn ein militärisch nicht ganz wehrloses Land wie China sich dazu entschließen sollte, die Vision Huxleys in einer modernen Form mit Hilfe der Gentechnik umzusetzen?

Wie dem auch sei, wenn das System vorgeburtlicher Genmanipulation in wirtschaftlicher Hinsicht dem heutigen genetischen Laissez-Faire überlegen sein sollte, so wird mit der ersten Anwendung dieses Systems durch eine Nation ein Zugwang auch für andere Nationen entstehen. Denn wirtschaftlicher Stärke folgt aunweigerlich früher oder später auch militärische Stärke. Und gegen die hilft keine Moral.

Roms Untergang