Chronik einer Endomorphose, 10. Juni 2000

Der Mensch und nur der Mensch kontrolliert den Gang der Geschichte auf der Erde. Über die Höhe vo Steuern entscheiden Politiker. Über den Bau von Kraftwerken entscheiden Wirtschaftsleute. In welche Märkte und Branchen investiert wird entscheiden die Strategen der Börse. Und wohin man in den Urlaub fährt entscheidet jeder einzelne selbst.

So gesehen kontrolliert natürlich der Mensch alles. Aber zunehmend werden uns computergestützte Systeme Entscheidungsvorschläge unterbreiten. Und die Erfahrung wird zeigen, daß die Vorschläge dieser Systeme so sehr viel besser sind als alles was sich Menschn ausdenken, daß wir ihren Vorschlägen so gut wie immer folgen werden. Dann aber entscheiden faktisch die Computer. Wir behalten uns lediglich so etwas wie ein hypothetisches Veto vor und leisten uns somit die Illusion eines freien Willens. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen.

Ausgeklügelte Verkehrsleitsysteme werden schon bald einzelne Autos vollständig von A nach B führen ohne daß der Fahrer sich selbst Gedanken über die Wahl der Route machen muß. Diese Systeme greifen auf Datenmengen zu die ein einzelner gar nicht mehr wird aufnehmen geschweige denn verarbeiten können. Verkehrsleitsysteme werden Erfahrungswerte über Staukritische Zeiten und Streckenabschnitte berücksichtigen. Sie werden Wettervorhersagen in ihre Routenvorschläge einfließen lassen. So werden Sie bei Schnee- und Eiswarnung steile Nebenstrecken deutlich schlechter bewerten als Bundesstraßen und Autobahnen. Sie werden über ständig aktualisierte Verkehrsmeldungen, Parkhausfüllungsgrade, Fährfahrzeiten und Straßensperrungen aufgrund angemeldeter Veranstaltungen verfügen. Ein Mensch wird zukünftig seinem Auto lediglich per Sprache mitteilen, daß er nach Dörnigheim in die Kennedystraße fahren will und "das System" wird in vor irgendwo in Europa bestmöglichst dorthin lotsen. Faktisch entscheidet nicht mehr der Mensch über die Route, sondern ein Computersystem. Das alles ist ganz harmlos und sehr nützlich.

Börsensoftware kann da schon deutlich weniger harmlose Folgen bedingen. Immer wieder hört man davon, daß an der Börse mit Computerprogrammen künstlicher Intelligenz experimentiert wird. Von guten Leistungen künstlicher neuronaler Netze ist die Rede wenn es um die Prognose von Kursverläufen geht. Methoden des Data-Mining könnten schon bald an der Börse eingesetzt werden um statistische Abhängigkeiten zwischen kategorisierten Wahlergebnissen in einzelnen Ländern, Wetter- und Klimadaten, Einkommensentwicklungen, Geburten- und Todesraten einerseits und dem Verlauf von Unternehmenswerten andererseits zu entdecken. Sollte die Erfahrung zeigen, daß eine solche Software bessere Investitionsentscheidungen treffen kann als Menschen - wennauch nur im statistischen Mittel - dann werden schlaue Investoren dieser Software trauen. Comptersysteme werden dann darüber entscheiden, wohin Geld fließt und wohin nicht. Geld aber ist Macht. Computer werden dann darüber entscheiden, ob eine Bauxitlagerstätte in Afrika abgebaut wird oder nicht. Und man muß sich dann die Frage stellen, wofür die Menschen (zumindest die an der Börse) noch gut sind.

Das Intelligente Haus wird seinen Bewohnern schon bald sagen, wann es sich besonders lohnt, wo einkaufen zu gehen. Das intelligente Haus wertet dazu die Inhalte des Kühlschranks aus, es weiß aber auch aus dem Internet, wo es gerade besonders günstige Sonderangebote in Supermärkten gibt und es wird mit Verkehrsleitsystemem kommunizieren, ob man gerade mit dem Auto gut in diese Supermärkte kommt oder nicht. Das intelligente Haus schickt uns einkaufen und wir tun es.

Im Berufsleben wird das Intelligente Büro ganz ähnlich mit uns verfahren. Ein Computerprogramm oder -system baldowert für uns die günstigsten Termine aus, es macht Fahrten und Routenvorschläge. Es erinnert und an bestimmte Aufgaben und es wird vielleicht demnächst auch automatisch auf interessante Kongresse, Veröffentlichungen, Tagungen etc. verweisen. Vielleicht werden sich unsere künstlichen Sekretärinnen demnächst unmittelbar miteinander "unterhalten" wenn es um Terminabsprachen oder die Zusammenstellung von Arbeitsgruppen geht. "Das System" wird ja auch unsere Fähigkeiten und Interessen kennen. Das intelligente Büro im Hintergrund wird uns schon bald durch den Alltag lotsen und wir folgen ihm brav.

Der elektronische Markt wird schneller und transparenter sein als jeder menschliche Markt es je sein könnte. Sucht ein Unternehmen ein bestimmtes Produkt wie beispielsweise Radlader für einen Tagebau oder Zahnbürsten für eine Supermarktkette, dann wird demnächst ein virtueller Agent im Internet auf Suche gehen und Angebot von Herstellern oder Lieferanten mit dem Anforderungsprofil der eigenen Firma vergleichen. Wenn die Erfahrung erst einmal gezeigt, daß diese Agenten zuverlässig und gut arbeiten, dann werden automatisch überwachte Lagerbestände sich automatisch im Internet die besten Angebote zum Wiederauffüllen besorgen. Wo heute noch Unternehmensberater wie McKinsey viel Geld für die Wahl der richtigen Zulieferer erhalten, werden schon bald Computeragenten das Sagen haben.

Richtig offensichtlich wird die Macht der Computer nach einer totalen Vernetzung der noch inselhaften Systeme. Stellen wir uns einmal den Lagerbestand eines Bergwerkes vor. Ein Computer (z. B: das SAP-System) merkt, daß es mit einer bestimmten Getriebeart zur Neige geht. Es löst eine Bedarfsmeldung aus. Internetagenten durchforsten daraufhin das Internet nach dem momentan günstigsten Anbieter und findet ihn. Es wird eine automatische Bestellung an den Hersteller herausgegeben und gleichzeitig ein Auftrag an eine Spedition generiert. Man beachte, daß bisher noch kein einziger Mensch beteiligt gewesen sein muß. Der Transportauftrag kommt bei der Spedition an. Ein Logistikmodul der Spedition kundschaftet dann den besten Transportweg und das günstigste Fahrdatum aus. Eine kurze elektronische Kommunikation mit der Materialausgabe des Getriebeherstellers, der Materialannahme des Bergwerkes stellt sich, daß der gefundende Termin auch technisch umgesetzt werden kann. Abschließend erzeugen die beteiligten Programme des Bergwerkes, des Herstellers und der Spedition automatische Einträge in den Kalender der beteiligten Lagerarbeiter und des LKW-Fahrers. Buchhaltung, Finanzwesen, Controlling und so weiter der beteiligten Firmen werden ebenfalls automatisch informiert.

In Summe wird man schon bald davon sprechen können, daß die im Hintergrund handelnden Computerprogramme alle Entscheidungen treffen und nur noch fertige Arbeitsanweisungen an einzelne Menschen schicken werden. Der Trend wird sein, daß Computer immer mehr Entscheidungen treffen und uns Menschen nur noch zur Ausführung benötigen werden. Das Netz als ganzes wird sich gegenüber uns Menschen dann so verhalten wie ein menschliches Gehirn gegenüber den restlichen Zellen eines Körpers: Die zentrale Entscheidet, der Rest führt aus.

3. Weltkrieg