Das „Ich“ als Sammelsurium vieler Einzelkämpfer

„Ich will!“ ist ein Satzfregment ohne abstruse Fremdwörter und komplizierte grammatikalische Verschachtelungen. Und dennoch verbirgt sich hinter diesen zwei Worten ein tiefes Mysterium. Man versuche einmal die Worte „ich“ und „wollen“ zu definieren. Ich habe es mit viel Ausdauer und Phantasie probiert und es ist mir nicht gelungen

Was ist das Ich? Auf diese alte philosophische Frage möchte ich den Vorschlag einer Antwort machen. Aber zuvor möchte ich an Beispielen zeigen, was denn an diesem Begriff so schwierig sein kann. Das erste Beispiel bezieht sich auf die Berufswahl.

Nachdem ich 1995 mein Bergbaustudium in Aachen beendet hatte, stellte sich die Frage nach dem weiteren Werdegang. Ein konkretes Angebot seitens eines Unternehmens der Gips- und Baustoffbranche hatte ich bereits abgelehnt bevor ich dann ein zweites konkretes Vertragsangebot eines Bergbauunternehmens erhielt. Ich konnte in mir deutlich unterschiedliche konkurrierende Wünsche, Stimmen, Argumente oder Willen wahrnehmen:

  • Nehm` das Angebot an. Es entspricht genau deinem Studium, Du wirst viel von deinem erworbenen Wissen einbringen können.

  • Nehm` das Angebot an. Du wirst ein gesichertes Einkommen haben und brauchst dir auch langfristig über Geld keine Sorgen zu machen.

  • Nehm` das Angebot an. Es ist mit einem nicht ganz niedrigen sozialen Status verbunden. Freunde und Verwandte werden es als Erfolg werten und dich entsprechend respektieren. Insbesondere wird es den Eltern gefallen.

  • Nehm` das Angebot an. Die Leute die in dir stets nur den weltfremden Phantasten und Öko-Freak sahen werden dadurch eines besseren belehrt.

  • Nehm’ das Angebot an. Du wirst dadurch viel lernen und hast gute Chancen weiterzukommen, die Aufgaben werden sehr interessant sein und du wirst wahrscheinlich auch die Chance einer Auslandstätigkeit erhalten.

  • Nehm’ das Angebot an. Du wirst nützliche Beispiele für deine Theorien und Sinnierereien sammeln können; insbesondere hinsichtlich der „Individuation“ der menschlichen Gesellschaft und der „Genetisierung“ des Wirtschaftslebens.

  • Nehm` das Angebot an. Was willst du denn sonst machen?

  • Lehne das Angebot ab. Du bist nicht der Typ dafür. Dir fehlen Durchsetzungsvermögen, technisches Interesse und technisches Verständnis. Du wirst frührer oder später daran scheitern.

  • Lehne das Angebot ab. Es wird dir zuviel deiner wertvollen Freizeit rauben. Du wirst keine Zeit mehr für deine Theorie der beschränkten Kupplung und für die Sinnierereien über Gott und die Welt haben. Auch wird die Familie drunter leiden.

  • Lehne das Angebot ab. Du wirst täglich viel Zeit im Auto verbringen. Du findest Autofahren nicht nur ökologisch schädlich, sondern regst dich auch unmittelbar über das agressive Verhalten anderer Autofahrer im Verkehr auf.

  • Lehne das Angebot ab. Wenn du letztendlich an den Anforderungen scheiterst werden wieder die Mahner recht behalten haben, die in dir nicht einen praktisch veranlagten Menschen sehen, sondern einen Phantasten.

  • Lehne das Angebot ab. Du hast Angst vor menschlicher Konkurrenz.

Da stand ich nun. Aus dem Inneren meines Gehirnes sprachen all diese beratenden und hoffentlich wohlwollenden Stimmen zu mir. Alle hatten irgendwo recht und widersprachen sich dennoch. Was ist das „Ich“ in einer solchen Situation? Ist es eine zunächst willenlose Instanz im Gehirn, die sich beraten lässt und dann ein ausgewogenes Urteil fällt? Ist es der Wille zum beruflichen Erfolg? Ist es der Wille zur Umsetzung meiner Philosophierereien? Ist es ein bloßer Zuschauer der gar keinen Einfluss nimmt? Aus der blossen Selbstschau heraus kann ich diese Frage bis heute noch nicht beantworten. Vom Gefühl her stehe ich am ehesten auf dem Standpunkt, das „Ich“ und mein „Bewusstsein“ waren bei der ganzen Entscheidungsfindung nicht mehr als Zuschauer. Dass ich letztendlich das Angebot annahm war nicht der weise Eingriff des übergeordneten „Ichs“ sondern schien mir ein Waffenstillstand oder Kompromiss auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner aller beteiligten Willen gewesen zu sein. Ich nahm an in der Hoffnung in mir seien verborgene Fähigkeiten, in der Zuversicht viel für meine Thesen lernen zu können und in der Hoffnung ausreichend Freizeit zu haben.

Das zweite Beispiel für die nebulöse Rolle eines „Ichs“ bezieht sich auf das wohltätige Spenden von Geld oder Zeit. Schaut man sich in der Welt um, sollte eigentlich jedem das Herz stocken ob der himmelschreienden Ungerechtigkeit. Wir in unseren westlichen Wohlstandsdemokratien leben in Saus und Braus und großer Freiheit. Anderswo auf Erden wird sich in Ditkaturen und Bürgerkriegen gegenseitig hingemetzelt und gefoltert. Viele Menschen leiden an Hunger und Krankeiten oder den Folgen von Naturkatastrophen. Derweil in Mosambik vielleicht ein Familie nicht das Geld für eine einfache Prothese für ein durch Tretminen verletztes Kind zusammenbekommt, wissen wir oftmals vor Übersättigung nicht, ob wir uns lieber griechisch oder italienisch überfressen sollen, bevor dann die nachfolgende Kneipentour durch die Innenstadt zum eingeplanten Alkoholabsturz führen soll.

Ein Bisschen schlechtes Gewissen dürften viele von uns über diese Umstände empfinden. Und ein schlechtes Gewissen ist etwas Beharrliches. Seit Jahren schlägt mir dieses schlechte Gewissen immer wieder vor, etwas von meinen verhältnismässig gesicherten finanziellen Möglichkeiten zu spenden. Wieder wird mein „Ich“ von unterschiedlichen Stimmen beraten:

  • Spende 10% deines Nettoeinkommens. Darauf kannst Du locker verzichten und es wird anderen Menschen vielleicht das Leben retten.

  • Beschäftige dich intensiv mit verschiedenen Hilfsorganisationen und spende jeweils soviel wie du für angemessen hältst.

  • Spende nichts. Es könnten schlechte Zeiten kommen, und dann bist du froh über jede gesparte Mark.

  • Spende nichts. Jede Spende verfestigt nur die Strukturen der Ungerechtigkeit. Der Leidensdruck muss so gross werden, dass sich die Betroffenen selbst helfen wollen.

  • Spende nichts. Du würdest es ohnehin nicht aus echter Hilfsbereitschaft sondern bloss aus schlechtem Gewissen tun. Du Heuchler.

  • Spende nichts. Das meiste Geld versickert in sinnlosen Verwaltungsstrukturen oder schlimmstenfalls in Korruption, Nepotismus und Aufrüstungsprogrammen.

Auf irgend eine nicht erklärbare Art und Weise identifiziert sich das Ich am ehesten mit dem ersten Willen, mit dem schlechten Gewissen, das aus Mitleid und Vernunft viel Spenden möchte. Durchgesetzt haben sich bisher aber nur die Verhinderer. Man fühlt sich an Nietzsches Spruch erinnert: "Es bleibt zu häufig bei einem Erkenn des Guten, ohne es zu tun, weil man auch das Bessere kennt, ohne es tun zu können." In: "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", geschrieben um das Jahr 1873

Ist es eine Eingebung aus dem Jenseits, dass sich das Ich-Gefühl am ehesten mit den Nobelsten verknüpft? Und ist es ein Indiz für meine These der beschränkten Kupplung, dass sich dieser Einfluss noch nicht durchsetzen konnte? Ist mein Gehirn für einen Einfluss aus dem Jenseits bezüglich Spenden noch nicht effektiv genug? Oder aber ist das alles Einbildung und letztendlich dadurch erklärbar, dass ich mir meine Schwäche akzeptierbar reden will und die ganze Philosophiererei nur Humbug?

Ich möchte an dieser Stelle den englischen Philosophen Olaf Stapledon aus seinem Buch "Saints and Revolutionaries" zitieren. Er gibt sehr treffend die Natur des "Ichs" und seinen Bezug zur Welt wieder:

"But what about this 'something discovered in the depth of one's own being'? This I interpret as a metaphorical way of saying that in persistent contemplation of myself and the world I discover, beneath all the personal desires which make up the everyday "I", another desire or will, so alien from the everyday "I" as to seem indeed another being. It is a detached will for the good, not for my good nor even for mankind`s good, but for the good of the universe, whatever that may turn out to involve. I recognize that this will ought to be the supreme determinanant of may conduct, and in a fickle sort of way I strive to submit my normal self to it (beschränkte Kupplung!). I recognize also that in some sense this will is a potentiality of all minds. Inevitably the awakening of a mind must lead it to this desire, this will. Evidently, then, this will is a very important factor in the universe. But what its metaphysical status is, I do not pretend to know."

Es fällt mir mehr als schwer mich als ein zusammenhängendes und beständiges „Ich“ zu empfinden. Viel treffender finde ich die Vorstellung, das neuronale Netz zwischen den Ohren beherberge eine Vielzahl konkurrierender, koalierender und taktierender Willen die sich irgendwie arrangieren müssen, nur über einen gemeinsamen Körper zu verfügen. Wer in einer jeweiligen Situation entscheiden darf, ob der Mund ein weiteres Bier bestellt, ob die Füsse zu einer Bank laufen wo wir eine wohltätige Überweisung tätigen oder ob die Hände einen bestimmten Arbeitsvertrag unterschreiben hängt ab von sozialen Beeinflussungen, von unserem jeweiligen chemischen Zustand, von zufällig gemachten Entscheidungen und sonstigen wechselhaften Faktoren. Ein beständiges „Ich“ ist da schwer auszumachen. Der deutsche Verhaltensbiologe Konrad Lorenz benutze den Begriff vom Parlament der Instinkte. Das finde ich sehr treffend. In meinem Kopf sind ständig Redner am Werk die fast parlamentarisch miteinander umgehen. Bestimmte Umstände wie etwa Panik können einen von ihnen vorübergehend zum Diktator erheben, aber verdammt noch `mal was ist darin das „Ich“? Sollte man nicht besser die erste Person Singular abschaffen und von sich nur noch wie der alte Adel im „wir“ sprechen?

Ein ungewöhnlich unterhaltsam geschriebenes (und reich bebildertes) Buch führt unter der Metapher des "inneren Teams" eine Fülle weiterer Beispiele an und bietet über die reine Anschauung hinaus auch noch praktische Tips um dieses Phänomen im Alltag und bei der Lebensgestaltung zu nutzen.

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