Chronik einer Endomorphose, 24. Juni 2000

Im Letzte Woche (Juni 2000) war ich in Polen auf einem Bergbaukongress. Die Eindrücke gehen mir noch immer im Kopf umher. Im Groß und Ganzen waren sie sehr gut und einige besonders erwähnenswerte Dinge wollte ich per E-Mail rundschicken. Was das ganze mit der Endomorphose zu tun hat, steht am Schluß geschrieben.

Dienstags abends fuhr ich in Aachen mit einem modernen Reisebus ab. Die Reise nach Gliwice (Gleiwitz) sollte 17 Stunden dauern. Der Bus fuhr noch einige Städte im Ruhrgebiet an und ging dann gegen 22.00 Uhr hinter Herne "auf Strecke". Das heißt er fuhr dann ohne weiteren Halt durch bis zur
Grenze Forst. An Bord waren außer mir nur Polen. Das aber konnte man von außen nicht erkennen. Sie sahen äußerlich aus wie Deutsche. Die Stimmung im
Bus war sehr ruhig und diszipliniert. Um die Zeit etwas zu vertreiben wurden Videos gezeigt. Und zwar ausschließlich amerikanische Gewaltfilme. Anscheinend ist der Bedarf an solchen Filmen in Polen so hoch, daß keine Zeit ist, sie ordentlich zu übersetzen. Ein Mann überspricht einfach alle Dialoge auf Polnisch. Bei dieser Kategorie von Film konnte aber auch ich als Deutscher der Handlung mühelos folgen. Irgendwann schliefen dann alle gut ein. Der Trick ist, sich langsam hinter Aachen schon mit Alkohol volllaufen zu lassen. Die Polen nippten ständig an Bierdosen und ich hatte einen Liter Rotwein getrunken. So schliefen wir alle friedlich bis zur Grenze.

Die Grenzformalitäten gingen reibungslos vonstatten, wennauch der deutsche Grenzbeamte - in meinem Augen ein junger Schnösel - sehr arrogant war. Aber so müssen vielleicht gute Grenzer nun einmal so sein um Respekt zu haben. Nun, Mittwoch Morgen, ging auch langsam schon die Sonne auf und wir hatten einen schönen Blick in die polnische Landschaft. Für zig Kilometer dominierten Kiefernwälder, Heide und Sandflächen. Besiedlung war kaum zu sehen. Keine Werbeschilder, keine Tankstellen, einfach nur ruhige Heide und Kiefernlandschaft. Hermann Löns wäre begeistert gewesen. Von einer kleinen Raststätte - man spricht kaum Deutsch - nahe hinter der Grenze konnte ich einige vereinzelte alte Gehöfte in der Entfernung ausmachen die allesamt verlassen schienen. Später erzählten mir einige Polen übereinstimmend, daß Niederschlesien (von der Grenze bis etwa Opole/Oppeln) nach dem 2. Weltkrieg überwiegend von ukrainischen Polen besiedelt worden war. Die Deutschen sind aus dieser Gegend fast vollständig vertrieben worden. Die polnischen Flüchtlinge fürchteten somit ständig eine Rückkehr der Deutschen. Sie empfanden Städte wie Liegnitz und Breslau nicht als ihre Heimat. Dementsprechend gering war ihr Engagement etwas an ihren Häusern zu tun. Hinzu kam natürlich noch der Effekt, daß es während der Herrschaft der Kommunisten kein oder kaum Privateigentum gab. Und wer hält schon etwas in Schuß, was ihm nicht gehört?

Nun aber weiter im Bus Richtung Osten. Ab Liegnitz fuhr der Bus wieder die Innenstädte an. Der Verkehr in den Städten ist verglichen mit dem täglichen Kollaps in Deutschland dünn. Es fahren noch viele Kleinstautos vom Typ Fiat 126 (Motorleistung: 17 kW) umher, aber so langsam überwiegen doch westliche Modelle der Klein- und Mitteklasse. Große Protzwagen sieht man so gut wie gar nicht. Keine Mercedes, Opel Senatoren, Toyota Camry oder BMWs, sehr wenige Geländewagen etc. Auch sah man kaum Gewerbe oder Industrie. Ich fragte mich, von was die Leute leben. Zumal auch der Boden in Niederschlesien wohl kaum etwas für die Landwirtschaft hergibt. Ich sah kaum bestellte Felder. Überall nur Heide und Wald.

Daß diese Gegend bis 1945 einmal deutsch war merkt man überhaupt nicht mehr.

Je weiter wir nach Osten kamen, desto wohlhabender und geschäftiger schienen die Orte zu werden. Hinter Breslau, Richtung Oppeln, fielen dann zunehmend Gewerbeflächen auf. Es wird viel gebaut. Große westliche Einkaufsmärkte wie "HIT", "REAL" und "OBI" fielen sehr ins Auge. Straßen wurden verbreitert. Die Holländer haben ein schönes Wort für so etwas: "horizon vervuiling", Horizont Verschmutzung. Auch tauchten jetzt mehr große Tankstellen auf.

Gegen Mittwoch Mittag kam ich pünktlich auf dem zentralen Bushof in Gleiwitz (Gliwice) an. Daß man sich hier nun im oberschlesischen Industrierevier mit viel Umweltverschmutzung befinden sollte, merkte man nicht. Nirgends waren rauchende Schlote zu erkennen. Eigentlich hatte ich
mir die Gegend vorgestellt wie das Ruhrgebiet 1970. Aber dem war nicht so. An diesem Tag um 16.00 Uhr sollte der Kongress in dem kleinen Ferienort Szczyrk (kein deutscher Name vorhanden) in den Beskiden beginnen. Ach ja, die ganze Busfahrt hin und zurück hat gerade einmal 149 DM gekostet!

Ich hatte mit Kollegen von der Technischen Universität von Schlesien in Gleiwitz ausgemacht, daß ich die letzten 100 Kilometer bis Szczyrk in einem Privatwagen mitgenommen werden würde. Und auf die Minute pünktlich erschien dann auch Herr Zapala in einem kleinen Fiat 126. Er lud mich dazu ein, einen kleinen Umweg zu fahren, sodaß ich etwas von der schönen Landschaft Richtung Karpaten sehen könnte. Südlich von Gleiwitz sahen wir dann einige Steinkohlenbergwerke die wohl allesamt noch fördern und dann nach vielleicht 50 Kilometern wurde die Gegend dann deutlich hügeliger und grüner. Wir befanden uns nahe der Quelle der Weichsel.

 
Diese Gegend war niemals deutsch besiedelt, die Orte hatten nur noch polnische Namen (Tychy, Bielsko-Biala, Zywiec) und die Einwohner sind wohl auch zu einem großen Teil einheimische Polen. Dementsprechend gepflegt bis reich sahen die Häuser aus. Man spürte, daß es hier Tradition und Brauchtum gab. Gerade in den kleinen Touristenorten am Rand der Berge kam man sich vor wie im Schwarzwald. Alles war sehr gepflegt, die Häuser individuell gestaltet, mit viel Holz und meist eher groß als klein. Hier scheint es viel Geld zu geben. Nachdem wir uns dann noch verfahren hatten, lenkte uns ein Einheimischer auf einen kleinen gerade noch asphaltierten Waldweg. Vorbei ging es dann auf einem steilen Weg quer durch den Wald an der alten Ferienresidenz des ehemaligen (vor dem Krieg) polnischen Präsidenten Pilsudski Richtung Kongress. Wir kamen etwa 20 Minuten zu spät an und da ich erst einmal duschen wollte, verpasste ich die ersten Vorträge.

Untergebracht war ich in einem kleinen sauberen Doppelzimmer mit Blick auf die Berge. Ein Nigerianer der mit mir im Zimmer übernachten sollte kam allerdings nicht zum Kongress. So hatte ich doch ein Einzelzimmer für mich. Das Hotel war sehr sauber und repräsentativ aufgemacht, aber nicht protzig. Die Damen an der Rezeption sprachen teilweise Deutsch und Englisch, aber manche sprachen auch nur Polnisch. Im täglichen Leben kann man nicht davon ausgehen, ohne weiteres deutsch oder englischsprachige Personen zu treffen.

Nun, gegen 17.00 Uhr traf ich dann im Kongressal ein. Etwa 70 Teilnehmer saßen dort in einer speziall hergerichteten Turnsaal des Hotels. Mein erster Eindruck war, daß der Altersdurchschnitt durch meine Ankunft dramatisch heruntergegangen sei. Tatsächlich kamen später auch noch viele jüngere Teilnehmer dazu, aber die meisten Teilnehmer lagen deutlich über 45 Jahre Alter.

Das Thema des Kongresses hieß "28th Conference on Automation and Telecommunication in Mines - Coal and Mineral" und ich sollte einen Vortrag über ein Kommunikationsprogramm halten, welches wir an der Uni Aachen entwickelt hatten und welches gerade im deutschen Steinkohlenbergbau eingeführt werden soll.

Einen Kongressteilnehmer möchte ich gesondert beschreiben. Ein Professor aus Amerika. Galt im Allgemeinen, daß westliche Teilnehmer sehr viel legerer und ungezungener auftraten als Osteuropäer, so setzte der Amerikaner dem ganzen die Krone auf. Er sprach die meisten Leute mit Vornamen an, was ich als sehr angenehm empfand, da er dennoch die Distanz waren konnte. Aber daß er nie eine Krawatte trug und meist das Hemd oben offen trug, viel doch sehr auf. Auch ich allerdings trug ab dem
zweiten Tag dann keine Krawatte mehr. Das Wetter war heiß und schwül. Bei einem Besuch auf dem polnischen Steinkohlenbergwerk Pniowek trat er dann richtig US-mäßig auf. Unsere Gastgeber waren äußerst formal in ihrem Auftreten. Die Hierarchien auf dem Bergwerk konnte man quasi sehen. Der Bergwerksdirektor der uns begrüßte und verabschiedete trat in den Vortragssaal durch eine mehrfach gedämpfte Tür von seinem Büro ein und war insgesamt sehr autoritär. Was macht der Amerikaner kurz vor Ende unseres Besuches? Während 40 Kongressteilnehmer ehrfürchtig dem Direktor lauschten setzt er sich mit einer schnellen Handbewegung eine Baseballmütze auf den Kopf und lächelt in die Runde. Nun denn, mir hat er gefallen.

Abends wurde viel Alkohol gereicht. Ständig gabe es dazu etwas zu essen und knabbern. Einheimische Musikanten unterstützten eine bierselige Stimmung (sehr gute Musiker, mit klassischen Instrumente und
traditionellen Weisen aus der Region, kein Yea yea). Ein älterer bosnischer Professor und ein junger Deutscher soffen um die Wette und leerten zu zweit fast zwei Flaschen Vodka. Der Bosnier habe am nächsten Tag eingestanden, zum ersten Mal im Leben von einem Deutschen unter den Tisch gesoffen worden zu sein. Ich allerdings war die "Vodka Barrier". Rechts von mir (ich inbegriffen) wurde kein Vodka gesoffen, links von mir umso mehr. Natürlich sangen die Deutschen dann auch das Steigerlied, wennauch recht kläglich, da ich der einzige Bergmann dabei war. Singen können die Polen aber auch gut. Da es Liederbücher gab, sangen auch wir aus dem Westen mit. Mit der Aussprache liegt man meisten richtig wenn man sich vorwiegend mit "sch", "tsch" und "z" Lauten äußert. Den Rest machen Takt und Melodie.

An einem Abend setzen wir den geselligen Teil in der Hobelbar bis morgens drei Uhr fort. Ein Pole mit deutschen Eltern und ein polnischer Bergmann von einem Parallelkongress sowie weitere Polen waren eine super Partie. Wir unterhielten uns viel über Politik und lachten dabei viel.

Das Kongressprogramm ging von morgens 9 bis abends 19 Uhr und dauerte bis Samstag Mittag. Jeder Vortragende hatte 20 Minuten Zeit inklusive Diskussion. Der Chairman achtete meist sehr streng auf die Einhaltung der Zeiten. So bestanden die meisten Diskussionen aus lediglich 1 bis 3 Fragen.
Aber in den Pausen und abends wurde dann doch ziemlich viel noch fachlich gesprochen.

Aufgefallen ist der große Unterschied zwischen westlichen und östlichen Vorträgen. Tendenziell neigen osteuropäische Wissenschaftler dazu, die Aufnahmefähigkeit und -geschwindigkeit ihrer Zuhöhrer erheblich zu überschätzen. Sie legten viele Folien mit klein gedruckten Texten, elektrischen Schaltkreisen, Tabellen und Skizzen auf die kein Mensch verstehen konnte, geschweige denn in 20 Sekunden. Westliche Teilnehmer aber auch Vertreter von polnischen Bergwerken scheinen schon eher zu berücksichtigen, daß weniger mehr ist. So muß ich auch zugeben, daß ich
fachlich wenig mitgenommen habe.

Aber menschlich wohl. Vom Verhalten und Umgang schätze ich die Polen als westlich ein. Ich spürte keine Mentalitätsunterschiede wie etwa gegenüber
Südeuropäern. Mir ist nirgends nationaltypisches Machoverhalten aufgefallen. Oder ein markanter Stolz wie er Mediterranen oft eigen ist. Auch schienen Polen alle Themen geläufig zu sein, die auch uns beschäftigen. Insgesamt machten die Polen einen ruhigen, besonnen Eindruck. Was sie anpacken, scheinen sie gründlich und vernünftig zu machen.

Vorbehalte gegen Deutsche traf ich nirgends an.

Eine große Kluft spürte ich allerdings gegenüber Russen und Ukrainern. Konnte man mit Polen abends beim Trinken Klönen und Lachen aber auch
ernsthaft über die EU und den Bergbau reden, so war dies mit den Bewohnern der ehemaligen Sowjetunion nicht möglich. Zum Einen war da eine erhebliche Sprachbarriere. Alle Polen vom Kongress konnten Deutsch oder Englisch. Manche Russen und Ukrainer aber konnten nur ganz gebrochen Englisch. Sie sprachen dann auch sehr leise und defensiv. Ich kann nicht mehr in Worte fassen warum, aber jedesmal wenn ich versuchte mit Ihnen ein längeres Gespräch zu führen, scheiterte es daran, daß ich nicht wußte was sie sagen wollten. Auch schienen sie Dinge die ich erzählen wollte nicht zu verstehen. Das merkte ich dann an ihren Antworten auf meine Kommentare. Ich vermute, daß sie in gänzlich anderen Kategorien denken wie wir. In den Westen zu kommen, muß für sie immer noch sehr schwer sein. So erzählte ein Professor aus Sibirien, daß er für die Reise keine Gelder erhalte, mithin alles privat zahle. Und das bei einem Monatseinkommen von wenigen hundert Mark. Er war einfache Strecke drei Tage unterwegs. Mit dem Flugzeug nach Moskau, mit der Bahn nach Warschau und dann einem anderen Zug nach Krakau und von dort vom Kongress organisiert nach Szczyrk.

Am Samstag mittag löste sich der Kongress dann auf. Die meisten der 90 Teilnehmer blieben bis zum Schluß. Für die Ausländer hatten die polnischen Gastgeber noch einen Ausflug in das historische Salzbergwerk Wielizka organisiert. Sehr beeindruckend! 40 Meter hohe Kirchen in Salz gehauen, mit Statuen, Reliefs etc. 700000 (siebenhunderttausend) Besucher im Jahr würdigen dies.

Das Ganze liegt nur wenige Kilometer von Auschwitz entfernt.

Von Samstag auf Sonntag war ich dann in der wunderschönen Stadt Krakau. Zusammen mit einem Chilenen und zwei Deutschen gingen wir abends schön essen und durch verschiedene Kneipen. Den Absacker tranken wir in einem englischen Pub. Man spürte in Krakau auch etwas von einer gewissen Yuppie-Kultur.

Den ganzen Sonntag spazierte ich dann einfach ziellos in Krakau umher. Die Innenstadt ist schachbrettartig angelegt und umfasst etwa 6km im Umfang. Die Architektur erinnert an Norditalien, Passau, Wien - eben habsburgisch. Die Fassaden sind bunt, es gibt viele Arkaden, verspielte Kirchen und vor allem tausende von Kneipen und kleinen Geschäften. Alles ist mit viel Liebe und Phantasie eingerichet. Auf dem zentralen Marktplatz wimmelte es nur so von Menschen. Viele Touristen, Studenten und Einheimische. Die Innenstadt ist weitgehend autofrei und es fahren viele Pferdedroschken umher. Es wird hier viel Englisch gesprochen. Überall gibt es Geldautomaten. An der Stadtmauer hatten Künstler ihre Bilder zum Verkauf ausgestellt, über eine Fläche 50m lang und 4m hoch!

Schweren Herzens verließ ich Krakau vom internationalen Bushof, der mich übrigens sehr an den Bushof Topkapi in Istanbul erinnerte. Mit den vielen kleinen fliegenden Händlern, Busgesellschaften, Buden war es fast mediterran. Es fehlten allerdings die Schlepper die ja in der Türkei überall ihre Dienste anbieten.

Die Rückfahrt nach Deutschland war undramatisch. Zu erwähnen vergessen hatte ich noch die LKWs an der Grenze. Über eine Länge von fast 10 Kilometer standen die LKWs zur Ausreise nach Deutschland an. Im Radio hört man schon einmal etwas von mehreren Tagen Wartezeit an der polnischen Grenze. Nun, das könnte stimmen. Nach 20 Stunden Fahrt kam ich in Aachen an und schlief dann erst einmal 12 Stunden am Stück.

Was aber hat dieser Bericht mit dem Hauptthema dieses Tagebuchs zu tun? Der möglichen Verschmelzung biologischer und technischer Intelligenz zu neuen Überwesen? Es hat insofern etwas damit zu tun, daß es bemerkenswert ist, daß auf einem Kongress über Automation im Bergbau im Jahre 2000 kein einziges Wort über künstliche Intelligenz, über autark entscheidende Roboter, über Nanotechnologie gefallen ist. Im Berufalltag spürt man vielfach noch überhaupt gar nichts von den anstehenden dramatischen Veränderungen. Das finde ich sehr bemerkenswert.

Zeitungen erkennen den Trend

Korrektur eines Sachkundigen vom Dezember 2001: Bielitz-Biala im ehemals österreichischen Schlesien war bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs d i e deutsche (und überwiegend evangelische) Sprachinsel in Polen! In Bielitz steht heute noch das einzige Lutherdenkmal der ehemaligen habsburgischen Monarchie und Polens!