Chronik einer Endomorphose, 18. September 2000

"Wie SS-Männer"
Aachener Nachrichten, 16. September, Seite 3

In einem kurzen Artikel berichten die Aachener Nachrichten von dem bekannten schweizer Soziologieprofessor Jean Ziegler. Dieser hat sich bereits mit mehreren Büchern gegen das unmoralische Verhalten von Banken einen Namen verschafft.

In dem Artikel nun wird erwähnt, daß er nunmehr Unternehmensberater wie die von der Firma McKinsey mit SS-Männern aus dem Dritten Reich vergleicht.

Ihre Gemeinsamkeit sei, daß sie jegliche Entscheidungen kaltblütig bloß aufgrund von Zahlenmaterial träfen. Was bei den einen die Börsennotierungen sind, sieht Ziegler wohl - der Artikel sagt darüber nichts - in Vernichtungsvorgaben von Menschen in Konzentrationslagern oder Vorgaben bestimmte Regionen oder Städte "judenfrei" zu kriegen. Sowohl SS-Männer als auch Unternehmensberater leiten aus solchen Zahlenvorgaben Handlungen ab, die moralisch nicht mehr weiter hinterfragt wird.

Aber es besteht ein wesentlicher Unterschied bezüglich der Frage nach Schuld und Handlungsfreiheiten.

Meiner Kenntnis nach war es im Dritten Reich eine mehr oder minder freie Entscheidung jedes Einzelnen, inwiefern er Karriere in einer Organisation wie der SS machte. Wer sich durch besonders innovative Mord- oder Terrormechanismen seine Sporen verdiente war kein Mitläufer oder Opfer von Terror selbst sondern ein Täter.

Die normale Bevölkerung im Dritten Reich hingegen sehe ich eher in der Opferrolle. Während der NS Diktatur die offen geforderte Zustimmung zu verweigern wie beispielsweise den Hitlergruß konnte sicherlich schnell zu Repressalien auch gegen Familienangehörige führen. Und gegen die Angst vor Folter, Ermordung oder im schlimmsten Fall gegen die Angst vor einer Bedrohung der Familie zu handeln wäre übermenschlich gewesen.

Die SS aber war Teil eines Terrorapparates zur Unterdrückung der Bevölkerung. Sie war deutlich näher an der Quelle des Unrechts ein normaler Mensch.

Heute liegen die Dinge genau andersherum. Heute haben wir eine Demokratie. Die breite Masse wird nicht mehr von einer brutalen Diktatur unterdrückt, sondern sie selbst ist der Souverän.

Wenn also heute Politiker der Wirtschaft gehorchen müssen und Unternehmensberater Firmen zu einer möglichst kaltblütigen Einstellung gegenüber ethischen Belangen raten, dann drückt sich hierin Volkeswille aus. Denn heute könnte jeder von uns ohne Angst vor Folter, Sippenhaft oder unzumutbaren wirtschaftlichen Einbußen Dinge tun wie:

  • Durch geringfügige Mehrkosten regenerativ erzeugten Strom von Greenpeace Energy beziehen. Dies ist ein persönlicher Atomausstieg den man auch ohne Politiker vollziehen kann.
  • Produkte kaufen, die fair gehandelt wurden. Diese sind in der Regel erheblich teurer als "herkömmliche" Produkte, aber man muß sich ja nicht an Kaffee satt trinken.
  • Sein eigenes Autofahrverhalten derart ändern, daß man selbst einen spürbaren Beitrag zur Verringerung der Gefahr eines Klimawandels leistet. Eine Klimaveränderung würde sicherlich die ärmsten Länder am schwersten treffen, da ihnen die finanziellen Ressourcen fehlen um technisch darauf zu antworten.
  • Einen Teil seines Einkommens in nachhaltige Entwicklungshilfeprojekte investieren. Unterlassene Hilfeleistung ist auch eine Schuld.

Stattdessen aber blüht die Fun- und Konsum-Kultur: Fernreisen statt Urlaub am Baggersee, immer größere und mehr Autos statt ÖPNV, Billigjoghurt, Billigsprit und Billigbier, LKW-Logistik statt Bahntransport, Händies statt Solarzellen. Dies sind die Märkte mit denen Geld verdient werden kann. Der Kunde entscheidet.

Und es ist meiner Meinung nach ungerecht, den Firmen und Unternehmensberatern alleine den schwarzen Peter in Sachen Moral zuschieben zu wollen. Firmen sind sehr flexibel in ihren Antworten auf neue Bedürfnisse. Wenn heute ein ausreichend großer Markt für ethisch einwandfreie Produkte entstünde, dann würden sofort entsprechende Unternehmen enstehen und auch Unternehmensberater würden diesen Markt schnell akzeptieren.

Sollte Ziegler tatsächlich die Industrie und Unternehmensberater als Drahtzieher des Ökonomismus betrachten, so ist hierin eine gefährliche Augenwischerei zu sehen. Er gibt dem Leser ein ruhiges Gewissen und verlagert die Initiative auf Menschengruppen, die am allerwenigsten etwas ändern können.

Noch ist die Wirtschaft dafür da, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen.

Aber Ziegler hat vollkommen Recht, wenn er auf die Gefahr einer bloßen Zahlenbetrachtung hinweist. An den Börsen wird wahrscheinlich ohne jegliches Bewußtsein der Akteure über die wirtschaftlichen Entwicklungschancen ganzer Regionen entschieden. Damit wird auch darüber entschieden, wieviele Menschen verhungern, in Naturkatastrophen umkommen, in Diktaturen verbleiben, keine Bildung erhalten oder sozial verelenden.

Die einzige Konsequenz hieraus kann lauten, daß das Volk als Souverän sich seiner Macht bewußt wird, und von der Politik einer stärkeren ethisch motivierten Dirigismus verlangt oder aber selbst sein Konsumverhalten ändert.

Die Zeichen der Zeit stehen aber gänzlich anders. In Alltagsgesprächen fühlt man sich schnell altmodisch, wenn man dies verlangt. Der "Markt" regelt sich selbst am besten ist die Devise. Und die Börse ist selbst für Normalverdiener inzwischen dazu da, deren Besitz zu maximieren. Ganz losgeslöst von moralischen Fragestellungen.

Die große Gefahr ist aber darin zu sehen, daß einfache Zahlenkalkulationen einmal zeigen werden, daß Menschen zu teuer sind. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, daß Computer und Maschinen so gut wie alle menschlichen Tätigkeiten werden ersetzen können, dann wird die kaltherzige Börse die uns heute noch unsere Bedürfnisse zu den geringsten Kosten zu verwirklichen hilft, genauso kaltherzig darin sein, uns abzuschaffen. Und dann werden wir nicht auf eine Elite von brutalen Unterdrückern zeigen können wie es das NS-Regime war. Dann werden eingestehen müssen, daß es unser Konsumverhalten und unser Glaube an die Allweisheit des Marktes gewesen sein wird.

Aber ich sehe auch keine Alternative. Wenn Computer und Roboter oder hybride Lebensformen einmal leistungsfähiger sein werden als wir, dann ist unsere Abschaffung oder Verschmelzung mit diesen Lebensformen auf Dauer nicht aufzuhalten. Aber diese Lebensformen werden vielleicht auch einmal Empfindungen haben und Bewußtsein entwickeln. Und dann greift Albert Schweitzers Spruch "Tue Gutes damit es in der Welt bleibt". Was wir heute an Ethik und Moral in der Wirtschaft verankern, daran werden sich vielleicht auch unsere Nachfolger einmal halten. Und das sollte es Wert sein, denn der Geist der das Leben beseelt, entstammt vielleicht einer einzigen Quelle.

Schießender Robotersoldat