Chronik einer Endomorphose, 16. April 2000

Seit dem Boom des Internets boomt wieder der Glaube an die Zukunft. Es wird investiert. Privatleute interessieren sich für die Börse, es locken große Gewinne. Es herrscht Aufbruchstimmung. Gründerzeit. Die Jugend ist wieder leistungswillig, die Null Bock Generation bloß eine Erinnerung.

Keiner fragt ernsthaft wohin die Reise geht. Keiner sieht die Gefahren. Jeder sieht die Chancen, die wirtschaftlichen Möglichkeiten. Es wird investiert.

Gentechnik, Künstliche Intelligenz, Organprothesen, Robotik und dergleichen werden mehr als potentielle Zukunftmärkte betrachtet denn als Bedrohung der jetzigen Ausprägung menschlicher Existenz. Schlagzeilen aus den ersten Monaten des Jahres 2000 vermelden:

  • In England denkt man über das Klonen von menschlichen Embryonen nach. Natürlich bloß, um daraus Ersatzgewebe für erkrankte Personen zu gewinnen, nicht um ganze Menschen zu klonen.
  • Lebensversicherungen denken offen darüber nach, potentielle Kunden einem Gentest zu unterziehen und die Ergebnisse in die Festlegung der Versicherungsprämien miteinzubeziehen.
  • Genstränge für Pflanzen, Tiere und Menschen sollen patentiert werden.
  • Querschnittsgelähmte Personen können wieder gehen. Ein implantierter Minicomputer steuert die Beine, sodaß sinnvolle Gehbewegungen daraus entstehen.
  • Ein Blinder kann wieder grob sehen. Eine künstliche Kamera spielt die Signale dabei unmittelbar ins Gehirn ein.
  • Ein total Gelähmter kann durch Elektroden, welche in sein Gehirn implantiert sind oder Gehirnwellen abgreifen eine Computermaus (Cursor auf dem Bildschirm eines Computers) erfolgreich steuern.

Künstliche Herzen, Nieren und Knochen sind schon längst Stand der Technik. Wie weit ist es von hier, bis hin zu einem denkbaren Gehirn in der Schüssel? Machen wir folgendes Gedankenexperiment. Ein normal intelligenter Mensch erleidet einen schweren Unfall und wird nahezu vollständig gelähmt. Selbst die Gesichtsmuskeln versagen weitgehend ihren Dienst. Den Ärzten gelingt es, die lebenserhaltenden Funktionen seines Körpers zu erhalten, doch kann der Mensch kaum mit seiner Umwelt kommunizieren. Ihm werden nun Elektroden in das Gehirn implantiert mit deren Hilfe er die Funktionen einer Computertastatur und einer Computermaus steuern kann. Die Kommunikation mit der Umwelt ist nun über einen Computer (Bildschirm, Sprachgenerator) möglich.

Oh Danke du Segen der Medizin.

Sorge bereitet den Ärzten vor allem die Gefahr von Infektionen, Embolien und sonstigen Malässen welche vom nicht-gehirnlichen Körper herrühren könnten. Da dieser Körper bloß noch gefährlicher Ballast ist, entschließen sich die Ärzte gemeinsam mit dem Patienten zu einem gewagten Experiment. Das einzige was das Gehirn vom Körper benötigt ist Blut sowie die darin transportierten Lebenstoffe wie etwa Sauerstoff, Mineralien, Glucose und die Zellen des Immunsystems. Das Blut mit all seinen wesentlichen Bestandteilen kann inzwischen vollständig synthetisiert werden. Erstmalig in der Geschichte der Medizin wird ein Gehirn von dem ihm umgebenden Strukturen - Schädel, Gesicht, Augen, Körper - freigelegt und bleibt dennoch am Leben. Die Kommunikation mit der Umwelt erfolgt über einen Computer. Optische und akustische Signale werden von technischen Prothesen (Kameras, Mikrofone) unmittelbar in das Gehirn eingespielt. Nach einigen Tagen Übung kann man mit dem Menschen über eine besondere Software fast wie mit einem normalen Menschen kommunizieren. Ein Avatar gibt dem Menschen sogar wieder eine zumindest scheinbare körperliche Existenz zurück.

Spinnen wir das Gedankenexperiment etwas weiter und stellen wir uns vor, daß es in einer nicht allzufernen Zukunft einige dieser "Cybermenschen" geben wird. Sie sind natürlich weiterhin juristische Personen und können einen Arbeitsvertrag mit Unternehmen abschließen. Da sie allerdings so gut wie kein Geld für ihren Lebensunterhalt oder die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse ausgeben müssen, konkurrieren sie auf dem Arbeitsmarkt für einen winzigen Bruchteil des sonst üblichen Lohnes. In Zeiten der Arbeitslosigkeit werden sie problemlos jede Gehaltsforderung eines körperlich existierenden Menschen unterbieten können. Unternehmen werden die Cybermenschen als besonders zuverlässige, arbeitswillige und preiswerte Mitarbeiter schätzen lernen und ihnen bald den Vorrang vor jedem anderen Bewerber geben. Der ökonomische Druck wird bald Volkswirtschaften benachteiligen, welche die Ausweitung der Verschüsselung von Gehirnen zu unterbinden versuchen. Im Gegenteil, Volkswirtschaften welche es gestatten oder sogar fördern, selbst gesunde Menschen zu verschüsseln, werden einen spürbaren Konkurrenzvorteil genießen. Vielleicht wird es aber auch das Militär sein, welches zuerst Verschüsselung im größeren Maßstab realisiert.

Zumindest für geistige Tätigkeiten wird das "Hirn in der Schüssel" die jetzigen Menschen auf lang oder kurz verdrängen. Lediglich für Arbeiten die eine körperliche Existenz erfordern und nicht billiger von Robotern oder künstlichen Insektenhorden durchgeführt werden können, wird es noch Mensch in der jetzigen Form geben. Aber auch diese wird man dem wirtschaftlichen Druck folgend genetisch derart umgestalten, daß ihr Körper nicht mehr Geld kostet als er wert ist und spezialisierte Aufgaben optimal erfüllt. Der ökonomische Druck wird die entstehenden Möglichkeiten der Medizin und Genetik dahingehend nutzen, daß von unseren Körpern nur das übrigbleibt, was nicht billiger durch Computer und Roboter erledigt werden kann. Und das ist aus jetziger Sicht vor allem das dichte Nervengeflecht in unserem Schädel.

Sollte so eine Aussicht Angst machen? Oder ist dies vielleicht ein notwendiger Zwischenschritt in der Vergeistigung unserer Planetenoberfläche? Ganz egal wie man dazu stehen mag, es wird kommen.

Nordseedeiche öffnen?