Chronik gesellschaftlichen Wandels, 01.04.2003

Consumer Emulated Economies

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[1] Die Times of Economic Sciences of Asia schrieb in ihrer heutigen Ausgabe (14/3) über einen realökonomischen Großversuch in Kedong-Delta. Die nachfolgende Beschreibung beruht im Wesentlichen auf diesem Artikel.   <= Großversuch in Südostasien
[2] Nach Angaben des Sprechers der Asian Society for the Promotion of New Economies, Mark Lee, wurde in diesem Jahr ein in höchstem Maße innovativer Wirtschaftsraum eingeweiht, der insgesamt eine Fläche von rund 300 km² einnimmt.   <= 300 km² Versuchsfläche
[3] Die Kernidee, so Lee, ist es, die theoretischen Gedanken von Chiap Kow Cheng und Hans von Dokkerssiel in der Praxis zu erproben. Cheng und von Dokkerssiel hatten ein komplexes Modell der Rolle von Konsumenten in exportorientierten Ökonomien entwickelt.   <= Theoretiker

[4] Ausgehend von der Vorstellung, dass Konsum zunächst nichts anderes bedeutet als Wertvernichtung stellten die Theoretiker die Frage, welchen Nutzen Wertvernichtung für eine Ökonomie haben könne. Dabei begrenzten sie ihre Fragestellung auf Subsysteme übergeordneter Wirtschaftsräume. Das Saarland, Hong Kong, Tasmanien, Georgien oder etwa Feuerland könnten als Beispiele räumlich definierter Subsysteme betrachtet werden. Als alleinige Zielgröße, als Indikator wirtschaftlichen Erfolges also, wählten sie die Rendite die ein betrachtetes System erwirtschaftet.

  <= Konsum als Wertvernichtung, ökonomische Subsysteme und Rendite als Zielgröße
[5] Cheng und von Dokkerssiel näherten sich einer denkbaren Antwort über ein Gedankenexperiment. Sie unterstellten, dass Konsumenten und Produzenten in einer klassischen Sichtweise ganz gegensätzliche Interessen verfolgten. Der Konsument würde - rein theoretisch betrachtet - am liebsten alle Konsumgüter gratis erhalten. Der Produzent hingegen würde am liebsten Geld erhalten ohne dafür produzieren zu müssen. Verfolgenswert schien vor allem die zweite Frage zu sein.   <= Ein Gedankenexperiment
[6] Wie sähe der ideale Konsument aus Produzentensicht aus? Wie sähe eine Ökonomie aus, in der die Produzenten vollkommen frei und ohne jegliche Auflage Konsumenten gestalten könnten? Cheng und von Dokkerssiel luden international herausragende Vertreter renommierter Unternehmen und Industrievereinigungen zu einem Workshop nach St. Moritz ein. Das Ergebnis war zwiespältig. Einig waren sich alle Teilnehmer, dass der ideale Konsument weder fortwährend Zigarillos rauchen, Bodyware nutzen, Fernseh gucken oder Versicherungen abschließen sollte. Zwar zielten die Werbebemühungen einzelner Branchen gerade auf einen solchen Hochleistungskonsumenten ab, doch herrschte Einigkeit, dass dies nicht realistisch sei. Der für seine unkonventionellen Sichten bekannte brasilianische Industrielle Guido Junqueiro formuliert dann die Frage, ob es überhaupt nötig sei, dass Konsumenten Produkte komsumierten, das heisst vernichteten. Wozu, so Junqueiro, sei es aus Sicht von Autoherstellern, notwendig, dass ein Autofahrer tatsächlich Auto fahre? Wäre es, aus Sicht des Autoherstellers, nicht genauso gut, wenn die Autos unmittelbar nach dem Verlassen der Werkshalle recycelt würden? Würde der Autohersteller den Unterschied merken, ob man ein Auto 10 Jahre lang jährlich 15.000 Kilometer durch die Landschaft bewegt oder ob man alle 10 Jahre ein Auto kauft ohne es jemals im Zwischenzeitraum überhaupt zu benutzen? "Nein, natürlich nicht" war die Antwort der meisten Workshopteilnehmer. Junqueiro fragte dann, ob man dann nicht auch genauso gut den Konsumenten durch ein virtuelles Gebilde, etwa durch ein konsumemulierendes Computerprogramm, darstellen könne. Der Vorschlag wurde gleichermaßen mit ausgelassenem Gelächter, mit Vorwürfen des Zynismus und mit verständnislosem Kopfschütteln quittiert. Einen Konsens wie denn aber der ideale Konsument aussehen solle erreichte der Workshop nicht. Man war sich auf eine vage und beunruhigende Weise einig, dass man sich halt eine Ökonomie ohne Konsument nicht vorstellen könne.   <= Ein Workshop in St. Moritz: Die Rolle des Konsumenten in der Wirtschaft

Die in vielen gegenwärtigen Ökonomien noch existierende Verflechtung, dass Konsumenten in der Regel als Arbeitnehmer oder Unternehmer auch Produzenten sind wurde von Cheng und Dokkerssiel bewusst nicht betrachtet.

[7] Einige Jahre später hatten Cheng, Dokkerssiel und Junqeiro die detallierten Pläne einer vollständig konsumentenlosen Industriezone fertiggestellt. Junqueiro hatte derweil große Geldsummen und beträchtliche Lobbyarbeit in das Projekt investiert.   <= Kick-off
[8] Vor vier Jahren, im Frühjahr 1999, wurde der erste Spatenstich im Kedong-Delta getätigt. Bereits drei Jahre später waren ein Hafenterminal, eine Bahnanbindung sowie ein großer Flughafen erstellt. In einem internationalen Vertrag sicherten die drei Anreinerländer zu, dass sie Cheng, von Dokkerssiel und Junqueiro für einen Zeitraum von 25 Jahren vollständige Freiheiten in der Gestaltung der Zone einräumten. Eine besondere Klausel regelt die Handhabung strafrechtlich relevanter Vorfälle. Den drei Staaten wurden als Gegenleistung 25 % des erwirtschafteten Erfolges ab dem 10 Existenzjahr der Kedong-Zone versprochen.   <= Die Rolle der Anreinerstaaten

[9] Unternehmen wurden mit für sie traumhaften Angeboten umworben:

  • perfekte infrastrukturelle Anbindung
  • stabile politische Rahmenbedingungen
  • vollständige Steuerfreiheit
  • keine Sozialabgaben
  <= Der Anreiz für Firmen

[10] Im Gegenzug mussten die angesiedelten Unternehmen die folgenden Bedingungen akzeptieren:

  • Es dürfen keine Mitarbeiter - oder sonstigen Menschen - dauerhaft in der Zone angesiedelt werden.
  • Jedes Unternehmen bezahlt neben einer einmaligen Aufnahmegebühr und einer zu hinterlegenden Kaution jährlich einen fixen Betrag (der weit unter den üblichen Steuern, Sozialabgaben, Verbandsbeiträgen etc. liegt).
  • Keine in der Zone angesiedelte Firma darf Dienstleistungen oder Produkte an in der Zone befindliche Personen verkaufen.
  • Alle angesiedelten Unternehmen werden einem jährlichen Ranking unterzogen. Die 10 % der renditeschwächsten Unternehmen werden aus der Zone entfernt und durch neu anzusiedelnde Unternehmen ersetzt (evolutionäre Ökonomie).
  <= Die Pflichten der Firmen

[11] Inzwischen haben sich insgesamt rund 400 Firmen verschiedener Branchen angesiedelt. Nachfolgend eine knappe Auswahl:

  • Yachtwerften
  • CD-Rohling-Fabriken
  • Computerbasierte Übersetzungsbüros
  • Convenience-Food-Fabriken
  • Fabriken für Hochqualitätspapiere
  • Spielzeughersteller für Holzprodukte
  • Hersteller von interaktiver Lernsoftware
  • Hersteller von Bohrmaschinen für Baumärkte
  • Hersteller von Ultraleichtflugzeugen
  • Hersteller von Dauermagneten
  • Hersteller von Solarzellen
  • Literaturagenturen
  • Hersteller von miniaturisierten Computern
  • Hersteller intelligenter Kleidung
  • Hersteller von miniaturisierten Kampfrobotern
  • und so weiter
  <= Firmen die sich ansiedelten
[12] Die Betreiberin der Zone, die Chedokeiro Ltd., verfügt über diese Regelung über ein verlässliches jährliches Einkommen, welches sie zu etwa 60 % in den Erhalt und den Ausbau der Infrastruktur steckt. Die restlichen 40 % fließen in die Emulation, das heisst Simulation, der ja faktisch fehlenden Binnenkonsumenten.   <= Die Verwendung der Einkommen der Zone
[13] Cheng und von Dokkerssiel hatten mit Hilfe verschiedener Methoden der künstlichen Intelligenz eine komplexe Software erschaffen die mit einer vergleichsweise hohen Zuverlässigkeit Konsumenten verschiedener kultureller Hintergründe, verschiedener sozialer Status und sogar verschiedener Zukunftsszenarien emuliert. Die internen Zustände der Software sind so komplex, dass einzelne Attribute emulierter Konsumenten nicht auf sprachliche Weise beschrieben werden können. Die emulierten Konsumenten bestellen nun Konsumgüter bei den Firmen der Zone. Die Produkte werden von Robotern eingehend auf ihre Qualität überprüft und das Ergebnis fließt in die Berechnung des zukünftigen Kaufverhaltens der Konsumenten mit ein. Nach der Begutachtung werden die Produkte in der Regel in einer Müllverbrennungsanlage thermisch veredelt.   <= Software emuliert Konsumenten

[14] Der Nutzen der virtuellen Konsumenten soll laut Cheng und von Dokkersiel vor allem darin bestehen, durch ihre Produkt- und Anbieterwahl zukunftsträchtige Produkte frühzeitig zu erkennen. Dies zu erbringen sei die wesentliche Leistung der erstellten Software. Diese Software passe sich durch Rückkopplung mit dem realen Geschehen auf den realen Märkten der realen Welt ständig an neue Erkenntnisse an. Erste Untersuchungen deuten darauf hin, dass die emulierten Konsumenten tatsächlich globale oder lokale Trends mit einer gewissen überdurchschnittlichen Zuverlässigkeit vorwegnehmen können.

  <= Emulierte Konsumenten erkennen Trends
[15] Tatsächlich haben die Unternehmen der Zone somit einen Vorteil: Die emulierten Konsumenten fördern zukünftig erfolgreiche Produkte auf eine Weise, wie es die Fähigkeiten einzelner Unternehmen bei weitem übersteigen würde. Und dabei sind diese emulierten Konsumenten weitaus preiswerter als lebende Menschen, da für sie keine Instandhaltungskosten in Form von Lebensunterhalt, Raumbedarf, Gesundheitserhalt, Alterspflege etc. anfallen.   <= Nutzen emulierter Konsumenten
[16] Das Experiment im Kedong-Delta wurde bereits vor zwei Jahren öffentlich bekannt und es provozierte beträchtliche internationale Kritik.   <= Kritik
[17] Auf die Frage, wie viele real lebende Menschen denn am Ende noch übrig bleiben müssten, dass die Weltökonomie noch funktionieren könne, antwortete von Dokkerssiel, dass dies nicht Gegenstand seiner theoretischen Betrachtungen sei. Der von ihm und Cheng gewählte Ansatz sei ein systemtheoretischer und die Grenzen des Systems seien für ihn die geographischen Grenzen der Kedong-Zone. Selbstverständlich könne er sich gut vorstellen, dass auch andere geographische Räume auf diese Weise gestaltet werden könnten. Er sprach sich aber ausdrücklich dagegen aus, bereits besiedelte Regionen für eine entsprechende Umgestaltung vorzusehen, da dies einer ethisch nur schwer darstellbaren Verdrängung der ansässigen Bevölkerung gleichkäme. Dokkerssiel verwies auch darauf, dass ja letztendlich immer noch ein Endkonsument nötig sei, denn nichts anderes als dessen Verhalten vorwegzunehmen sei ja das Ziel der emulierten Konsumenten.   <= Ethische Probleme
[18] Vertreter internationaler Gewerkschaftsverbände fragten, ob denn nicht auch der Endkonsument irgendwann einmal emuliert werden könne und ob denn nun nicht nur mit einer Entfernung des Menschen aus den Produktions- sondern auch aus den Konsumprozessen gerechnet werden müsse. Und was solle mit real lebenden Menschen passieren, wenn all ihre Funktionen - produzierender und konsumierender Natur - preiswerter und leistungsstärker durch Roboter oder Computer ersetzt werden könnten.   <= Menschenlose Weltökonomie?

[19] Auf eine ganze Reihe solcher und ähnlicher Vorwürfe antworteten Cheng, von Dokkerssiel und Junqeiro mit einem provokanten Thesenblatt. Wirtschaftlich nützliche Konsumenten zeichneten sich dadurch aus, dass sie durch ihr Selektionsverhalten die produzierenden Akteure einer Ökonomie frühzeitig auf zukunftsträchtige Aktivitäten hinführten. Das Pamphlet schließt mit der Aufforderung, durch Phantasie und Ausdauer menschliche Sozietäten zu konstruieren, die dies besser könnten als computerbasierte Systeme.

  <= Zynismus?

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