Chronik einer Endomorphose, 01.12.2002 |
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[1] In letzter Zeit liest man immer öfter Meldungen darüber, dass technische Geräte erfolgreich mit tierischen oder menschlichen Nervenzellen verknüpft werden. | Einige Medienzitate aus dem Jahr 2002 | |
November 2002: Künstliche Neuronen Juli 2002: Ferngesteuerte Ratten November 2001: Belauschte Hirnsignale August 2001: Neuronen und Chips Februar 2001: Handloser NASA-Pilot |
<= Beispiele aus der Presse | |
[2] Deuten diese Meldungen nicht an, dass vielleicht schon bald menschliche Gehirne vom Körper getrennt und mit einem Computersystem verbunden werden können? Was bräuchte denn ein Gehirn, um als Organ zu überleben? Könnte man nicht alle lebensnotwendigen Stoffwechselvorgänge über künstliches Blut vonstatten gehen lassen? Und ist es dann nicht denkbar, dass ein Mensch, beziehungsweise sein Gehirn, alle Signale mit seiner Umwelt ausschließlich über eine Computerschnittstelle austauscht? Mir scheint diese Vorstellung durchaus real und es drängt sich dann die Frage auf, in welchen Welten die Gehirne - die ja Menschen sind - leben werden. Die Vorstellung erscheint beängstigend, düstere Phantasien in dieser Richtung sind nicht schwer zu ersinnen: | <= Ende der Entwicklung? Animation zum philosophischen Hintergrund dieser Internetseite Literatur über die Rolle der Technik in gesellschaftlichen Prozessen |
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Kyberland: kommerzialisiertes Jenseits Zungentod: Fehler in der Cyberworld Namibia: kommerzialisierte Hirnarbeit |
<= Zynische Phantasien | |
[3] Positive Phantasien gibt
es auch: eLife: Weiterleben als Rechner |
<= Positive Phantasien | |
[4] Nimmt man nun diese technologischen Entwicklunge ernst, so stellt sich die Frage nach einer aktiven Gestaltung der sich abzeichnenden Möglichkeiten. An dieser Stelle sollen drei Möglichkeiten eines Weiterlebens isolierter Gehirne unterschieden werden: | <= Technik ernst nehmen | |
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<= Drei Möglichkeiten eines Weiterlebens von isolierten Gehirnen | |
[5] An dieser Stelle soll ausschließlich die dritte Variante weiter betrachtet werden. Gehen wir also davon aus, dass man zukünftig Gehirne vollständig aus einem menschlichen Körper wird herauslösen und mit einem Computersystem wird verknüpfen können. Was soll man mit dieser technischen Möglichkeit anfangen? | <= Technikreflexion: Frage nach dem Nutzen | |
[6] Die folgende Liste offener Fragen soll andeuten, welcher Gestaltungsraum sich einerseits auftut. Sie soll aber auch zeigen, dass dieser Gestaltungsraum aktiv genutzt werden muss, sodass nicht Sachzwänge letztendlich unsere Zukunft bestimmen. Immerhin eröffnet sich ja die Chance, eine gänzlich neue Welt zu schaffen. Wenn die eingebetteten Gehirne ihre Sinnesreize ausschließlich über eine künstliche Computerwelt erhalten und auch nur in dieser wirken können, dann kommt den Erschaffern dieser Welt fast schon die schöpferische Bedeutung eines Gottes zu. | <= Gestaltbare Zukunft Kritische Frage: wenn wir die sinnlich erfassbare Welt gänzlich nach unserem Geschmack modellieren könnten, käme dann eine bessere als unsere jetzige Welt heraus? Ist so etwas überhaupt denkbar? |
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<= Liste von Gestaltungsmöglichkeiten einer künstlichen, computerbasierten Welt | |
[7] Die Vorstellung einer solchen künstlichen Welt in der echte Menschen leben werden rückt uns als deren Erschaffer in die Nähe dessen, was wir im Bezug auf unsere reale Welt Gott nennen. Wir hätten die Chance, eine Welt zu schaffen, in der all jene Mängel abgestellt sind, die wir in unserer Welt beklagen. | <= Werden wir wie Gott schöpfen müssen | |
[8] Kann es aber sein, dass die Mängel unserer Welt in der neuen Welt ebenfalls bestehen werden? Und zwar genau deshalb, weil wir den Bewohnern dieser Cyberworld ein gewisses Maß an Verläßlichkeit der Abläufe zugestehen wollen und deshalb Naturgesetze einrichten müssen? Und auch genau deshalb, weil wir den Bewohnern dieser Welt einen eigenen freien Willen zugestehen, der sich folgerichtigerweise auch gegen das Wohl anderer Bewohner richten kann? Haben die Katholiken Recht, wenn sie sagen, dass Gott die Sünde in unserer Welt genau aus jenem Grunde zulässt? | <= Kann es Perfektion geben? | |
[9] Wenn die technischen Möglichkeiten einer Verbindung von Gehirnen mit virtuellen Welten vor der Ausarbeitung eines umfassenden Konzeptes solcher Welten genutzt werden sollten, dann ist es wahrscheinlich, dass zunächst verschiedene, isoliert voneinander existierende virtuelle Welten entstehen. Vielleicht werden einige Gehirne chronisch kranker Menschen in einem eigenen Netzwerk innerhalb eines Krankenhauses zusammengeschaltet. Vielleicht lässt man auch einzelne Menschen sich ihre eigenen Welt bauen. Vielleicht sind die eingeschüsselten Gehirne Programmierer virtueller Welten, die sich ihre eigenen Realitäten erschaffen können. Vielleicht bindet man andernorts eingeschüsselte Gehirne in Unternehmen ein und lässt sie dort, gegen Bezahlung, Wissensarbeit verrichten. Vielleicht werden sich in der virtuellen Welt Sekten bilden, die eigene Welten nach eigenen Geschmäckern erschaffen. Hier ist alles denkbar. Vielleicht werden sich auch isolierte Gehirne in verschiedenen Welten bewegen. Sie könnten von einer Verbindung mit einem Roboter in eine virtuelle Nischenrealität wechseln um anschließend vielleicht in einen anderen Roboter einzufahren. Seelenwanderung? | <= Verschiedene Arten von virtuellen Realitäten: Alles ist denkbar. | |
[10] Welche Rolle werden unsere menschlichen Bedürfnisse nach festen sozialen Kontakten, Geborgenheit, Sinn des Lebens und so weiter in dieser neuen Welt spielen? | <= Menschliche Bedürfnisse? | |
[11] Vergegenwärtigt man sich all diese Fragen, dann mag es schon etwas verwundern, dass angesichts der rasanten technischen Fortschritte hin zu einer Möglichkeit der Verschmelzung biologischer Gehirne mit Computerwelten nicht mehr darüber gesprochen wird. Denn hier hätten wir die Chance, bessere Welten zu schaffen. Hier hätten Philosophen und Theologen eine Chance zur praktischen Umsetzung theoretischer Gedanken. Sie könnten sich überlegen, wie eine Welt ohne Leid und Entbehrung dennoch eine Welt mit Zielen und Erfüllung sein könnte. | <= Chancen | |
[12] Es wäre schade, wenn die ersten Bewohner virtueller Welten in die Welten von marktgängigen virtuellen Welten aus dem Bereich der Unterhaltungssoftware einziehen müssten. Vielleicht aber entstehen gerade aus dieser Branche Ansätze besserer Welten. Leben bald schon echte Siedler in einem virtuellen Catan? Vielleicht finden sich bald Programmierer zusammen, die im Geiste einer Open Source Software wie Linux eine gemeinsame, interaktive Welt auf der Basis virtueller Realitäten erschaffen und dabei das Ziel verfolgen, dass in dieser Welt mehr Zufriedenheit und Gerechtigkeit herrschen als in unserer Welt. | <= Open Source Projekt zur Erschaffung einer
neuen Welt? "Die Siedler von Catan" ist internetfähiges Mehrbenutzerspiel. |
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[13] Ich glaube, die Chancen die sich hier auftun sind riesig. Wahrscheinlich wird man dem Schöpfer unserer Welt keinen Haken schlagen können und eine perfekte Welt schaffen. Aber alleine schon der Versuch, eine praktisch umsetzbare, neue Welt zu programmieren die besser ist als unsere dürfte ein lohnendes Abenteuer werden, das vielleicht mit dem Zeitalter der großen Seefahrer und Entdecker vor 500 Jahren vergleichbar ist. Bei aller Realitätsverhaftung muss man auch positiv denken dürfen! | <= Neues Zeitalter der Entdeckungen? | |
[14] Vielleicht liest man in
10 Jahren eine Stellenanzeige wie die Folgende: Unser Unternehmen: Wir sind weltweit marktführend im Bereich virtueller Lebenswelten. Unser Ruf beruht auf der verantwortungsvollen Verknüpfung ethischer Bedürfnisse mit technologisch innovativen Konzepten. Ihr Profil: In Ihrem Lebenslauf können sie auf ausgeprägte Höhen und Tiefen verweisen. Emotionale Phantasie und Empathie gehören zu Ihren Stärken. Sie können auf ein frühes Interesse an philosophischen Fragestellungen verweisen und haben ausgeprägte Erfahrungen in der Bearbeitung ökonomischer Aufgabenstellungen. Ein authentisches Rechtsempfinden sowie ein genuines Interesse an aktiver Zukunftsgestaltung runden Ihr Profil ab. Ihre Aufgaben: In einer zweijährigen Traineezeit lernen Sie zunächst unsere Lebewelten als Bewohner kennen. In mehrwöchigen Blockseminaren lernen Sie dabei verschiedene operative Abteilungen kennen. Anschließend übernehmen Sie herausfordernde Aufgaben im Bereich der ethischen Programmierung. Den weiteren Verlauf Ihrer Karriere bestimmen Sie selbst. |
<= Schluss: hypothetische Stellenanzeige aus dem Jahr 2017 | |
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