Chronik einer Endomorphose, 01. Juni 2001

Bundestagsdebatte über Gentechnik

 
Die Freitagsausgabe vom 1. Juni 2001 der "Financial Times" für Deutschland widmete einer Bundestagsdebatte über die Gentechnik im Berliner Reichstag einen halbseitigen Artikel (Seite 17).

Zeitungsmeldungen, vor allem aus den Aachener NachrichtenWeitere Artikel aus dem Jahr 2001
Alle Redner sprachen sich für eine breite Debatte aus, bevor irgendwelche Regeln verändert werden sollen. Bundeskanzler Gerhard Schröder machte durch eine besondere Geste deutlich, dass er einen breiten Konsens suche und nicht per Kabinettsbeschluss seine Position durchsetzen wolle. Er sprach als Abgeordneter und nicht als Bundeskanzler und war darüberhinaus der einzige Redner des rot-grünen Regierungskabinetts.

 
Der Artikel der Financial Times macht deutlich, dass die Meinungsunterschiede quer durch die Parteien gehen, tendenziell die CDU und die Grünen aber gegen eine Lockerung gegenwärtiger Gesetze sind, die FDP diese hingegen fordere. Die SPD bietet das uneinheitlichste Meinungsbild.

Aus dem Parteiorgan Vorwärts, Januar 2001Die Meinung der SPDNotizen von einem Parteikongress in Mainz, Dezember 2000Die Meinung der FDP
Die CSU Internet Homepage vom April 2000 über GentechnikDie Meinung der CSU
Bundeskanzler Gerhard Schröder spricht sich klar für eine Nutzung der Präimplantationsdiagnostik aus und argumentiert, dass dabei keinerlei Veränderung an menschlichem Erbgut vorgenommen würde. Der Autor des Artikels weist leider nicht darauf hin, dass eine Selektion geeigneter Embryonen aus einer Menge getesteter Embryonen durchaus einer gezielten Änderung von Genen gleichkommt; und zwar findet die Änderung auf dem Niveau des menschlichen Genpools statt. Eine fortgesetzte Anwendung der Präimplantationsdiagnostik würde ganz sicher den Genpool der Menschheit auf Dauer in eine gesteuerte Richtung verändern.

 
Enttäuschenderweise scheint nach dem Artikel bloß eine Güterabwägung zwischen den potentiellen medizinischen Chancen der Präimplantionsdiagnostik und der Forschung an Embryonen einerseits sowie andererseits der Beeinträchtigung der Würde einzelner Menschen - eben der Embryonen - diskutiert worden zu sein. Der Artikel erweckt den Eindruck, dass es die Kernfrage der ganzen Debatte war, ab wann ein Embryo als Mensch behandelt werden muss; ob unmittelbar mit der Befruchtung oder etwa erst 12 Tage nach der Befruchtung (wie z. B. in England). Was aber einen Menschen gegenüber Tieren, Pflanzen oder toter Materie eingentlich auszeichne, wurde nicht gesagt.

 
Die Bundestagsdebatte scheint auch nicht näher auf das Problem eingegangen zu sein, dass die langfristige Anwendung manipulativer Gentechnik auf Dauer den Genpool der Menschen erheblich wird verändern können. Und damit stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien Gene verändert werden dürfen. Und eine Selektion stellt in diesem Sinne eben auch eine Veränderung des Genpools dar.

Eine Bewegung zur Verbesserung der MenschheitDie Extropier: namhafte Personen fordern die Neugestaltung der Menschheit
Der Artikel erwähnt nichts von der Schwierigkeit, trennscharf Krankheiten und schwere körperliche oder geistige Behinderungen gegenüber "ökonomischen Beeinträchtigungen" zu unterscheiden. Dieser Aspekt scheint nicht weiter diskutiert worden zu sein.

 
Aber gerade hier liegen meiner Meinung nach die großen Gefahren. Hat man einmal ja gesagt zur Manipulation des menschlichen Genpools, wird man im Sinne von "slippery-slope-arguments" immer wieder mit einer weiteren Ausweitung der erlaubten Manipulationen konfrontiert werden. Wenn wir heute Eingriffen zum Ausselektieren schwerer Geisteskrankheiten zustimmen, warum sollten wir dann nicht auch bald dem Ausselektieren von Embryonen mit sehr geringem Intelligenzquotienten zustimmen? Oder Fettleibigkeit: sprechen nicht humanitäre Gründe (Herzinfarkt, niedrige soziale Akzeptanz etc.) dafür, Menschen mit genetischem Ansatz zur Fettleibigkeit erst gar nicht enstehen zu lassen?

Die Forschung ergründet bereits den Zusammenhang zwischen Genen und IntelligenzGene für Schläue bei Mäusen (2000)
Estland vermarktet statistisch auswertbare Gendaten seiner BevölkerungGendatenbanken: Erkenntnisse über die Ausprägung von Genen (2000)
Und sollten wir dann nicht auch die Entstehung von Menschen verhindern die eine genetische Veranlagung zur Ausprägung der folgenden Eigenschaften haben:
  • Alkoholismus
  • Altersdemenz
  • Desinteresse an Konsum
  • Neigung zu Depressionen
  • Unfruchtbarkeit
  • Neigung zur Seekrankheit
  • Erhöhte Anfälligkeit gegenüber Karies
  • Straffälligkeit
  • Spielsucht
  • Politisches Querulantentum
  • "Unschönes" Äußeres
  • Kleinwuchs
  • Tendenz zum Bierbauch

 
Ein Buch von Andrew Kimbrell (siehe rechts) führt sehr viele Beispiele dazu an, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika bereits in den 1990iger Jahren viele potentielle Eltern ihr Interesse daran bekundet hatten, künstlich gezeugte Kinder auf genau solche sozial oder wirtschaftlich nachteiligen Gene hin untersuchen zu lassen, wie in der obigen Liste beispielhaft angeführt.

Ein ernüchterndes Buch aus dem Jahre 1994 über die Kommerzialisierung des menschlichen KörpersBuchtipp: Andrew Kimbrell über das "Ersatzteillager Mensch" (1994)
Ein Beispiel für die Schwierigkeit einer Grenzziehung wenn es um die ethische Verzweckung von Menschen gehtKind wird gezielt als Organspender gezüchtet (2000)
Das Buch führt sogar an, dass Unternehmen oder Versicherungen Gentests verlangten und so Mitarbeiter oder Kunden mit bestimmten Gensträngen favorisierten. Dies führt letztendlich zu der schwierigen Lage, dass man potentiellen Eltern doch aus humanen Gründen zugestehen müsste, ihren Kindern eine möglichst große Chance im zukünftigen (Berufs)leben zu geben. Indirekt würden so Firmen und Versicherungen über die Eltern Einfluss auf die Gestaltung von Menschen nehmen. Und das würde letztendlich dazu führen, dass Eltern darüber entscheiden könnten, in welcher Berufssparte ihre Kindern denn einmal die größten Chancen haben sollte. Verschiedene Berufssparten bräuchten natürlich verschiedene Menschentypen. Es würde sich also auf Dauer vielleicht unterschiedliche Menschen für unterschiedliche Aufgaben herausbilden.

England ist der Entwicklung in Deutschland "voraus"Versicherungen dürfen Gentests verlangen (2000)
Und damit sind wir bei der Vision der "Schönen Neuen Welt" von Aldous Huxley. Das menschliche Individuum wird so gestaltet, dass es den differenzierten wirtschaftliche und sozialen Bedürfnissen der Gesellschaft am ehesten gerecht wird und sich dabei auch wohlfühlt.

Wirtschaftlicher Druck formt die Menschen um.Über Huxleys Vision (2000)
How economic forces may induce humans to change their geneticsSocialism and redisigning humans (2000)
Dass diese Gedanke in der Bundestagsdebatte nicht näher diskutiert wird ist vielleicht ein Indiz dafür, dass man in Deutschland eine nicht näher fassbare Angst vor dieser Entwicklung hat. Gegenüber anderen Ländern scheint die öffentliche und politische Meinung in Deutschland eher zu einer sehr restriktiven Handhabung der Gentechnik zu tendieren. Man will den Rubikon nicht überschreiten, also braucht man auch nicht darüber zu reden, wie es jenseits dieses Schicksalsflusses aussehen mag.

 
Auch wenn vielen von uns die Phantasie fehlen mag, sich eine Welt vorzustellen, in denen wirtschaftliche Kräfte, Modeerscheinungen oder politische Konzepte bestimmen, wie der Mensch aussieht, so scheint doch bei vielen von uns ein starkes Misstrauen gegen die Aufgabe dessen zu existieren was man die individuelle Selbstbestimmung nennen kann. Wenn der Genstrang eines Menschen das Produkt einer für uns zufälligen Mischung elterlicher Gene und blinder Mutationen ist, so können wir uns noch dem Glauben der Einzigartigkeit menschlicher Individuen hingeben. Vielleicht spielt sogar ein göttlicher Einfluss bei der Entstehung von Menschen eine Rolle. Dies kann nach jetzigem Stand der Forschung zumindest nicht ganz ausgeschlossen werden.

Olaf Stapledon beschreibt die Chancen und Risiken künstlicher WesenGentechnik in 40 Millionen Jahren: es fehlt die Glücklichkeit
Wie aber wird unser Selbstverständnis aussehen, wenn es der Forschung einmal gelungen sein wird Menschen zielgenau zu erzeugen? Wie wird sich ein Mensch fühlen, der den genetischen Bauplan seines Selbst inklusive einer genauen Beschreibung der daraus resultierenden Charaktereigenschaften - verfasst vor seiner Zeugung - einsehen kann und sich selbst darin voll und ganz wiedererkennt? Wie frei und individuell wird sich ein Mann fühlen, der weiss, dass
  • seine Wahl Pilot zu werden
  • sein großes Faible für orientalische Kunst
  • seine Liebe gegenüber blonden Frauen mit einer Körpergröße von etwa 1.72m
  • sein Schlafbedürfnis von genau 7 Stunden pro Tag
  • seine Vorliebe für pfefferscharfe Speisen
  • sein großes Interesse an technischen Dingen
  • seine schwarzen Haare und Stupsnase

und so weiter zu 95% genetisch vorherbestimmt wurden? Dass sein Charakter das gezielte Produkt der Wünsche seiner Eltern ist? Dass er in seinen charakterlichen Veranlagungen die vorherrschenden Modeströmungen seiner Zeugungszeit wiedererkennt?

Und wie wird sich die auserwählte Lebenspartnerin dieses Mannes fühlen, wenn sie genau weiß, dass er sie planmäßig aufgrund eines bestimmten Genes "liebt"?

 
Dies ist meiner Meinung nach der wesentliche Knackpunkt der Diskussion über die Gentechnik. Die Möglichkeiten der Gentechnik zeichnen das Bild eines vorherbestimmten, eines technisch konstruierten Menschen. Die konsequente Weiterverfolgung der Gentechnik eröffnet potentiell die Möglichkeit, die Existen menschlicher Individualität und Willensfreiheit zu widerlegen. Wenn es nämlich der Gentechnik gelingen sollte, den Charakter und den Lebenslauf eines Menschen bis in kleine Details hinein zu determinieren, spätestens dann müssen wir uns als mechanistische Bio-Roboter auffassen. Die Gentechnik schickt sich an, eine weitere Dömäne der Religion und des Idealismus zu stürmen: den Glauben an die Freiheit menschlichen Willens.

Gedankenspiele zur individuellen SelbstbestimmungWie frei ist unser Wille?
Meiner persönlichen Meinung nach sollte diese Überlegung aber genau nicht zur Aufgabe des Konzeptes individueller Willensfreiheit führen. Vielmehr sollten wir die Möglichkeiten der Gentechnik als Anlass nehmen, die jahrtausendealten philosopischen Gedanken über das Wesen des Menschen verstärkt weiterzubetreiben. Was unterscheidet den Menschen von Maschinen? Was ist das Bewusstsein? Was ist eine Seele?

Platon postuliert das "Irrationale" im menschlichen WesenPlaton, Quantenphysik und menschliche Willensfreiheit
Ist menschliches Handeln kausal bestimmt?Freier Wille und Naturgesetze
Insbesondere die Erkenntnisse der Quantenphysik bieten interessante AnsätzeBuchtipps zum Geist-Körper-Problem und dem Phänomen "Bewusstsein"
Auf diese Fragen fehlen zur Zeit noch "knallharte" Antworten, Antworten die objektiv vermittelbar sind und als Kriterium dafür dienen können, was am Menschen geschützt werden muss und was wie verändert werden darf. Das ist es, was in Diskussionen wie etwa auch der Bundestagsdebatte über Gentechnik spürbar fehlt.  
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