Chronik einer Endomorphose, 3. Februar 2001

Informationsverarbeitung in sozialen Systemen
Eine Habilitationsschrift von Theo Gehm aus dem Jahre 1995

Der Begriff Endomorphose ist eine Kunstschöpfung und er soll soviel bedeuten wie "nach innen gerichtete Verformung" oder "Gestaltung der Bestandteile des eigenen Selbst".

 
Ich glaube, daß der "Weltprozess" derart angelegt ist, daß stetig komplexere Strukturen in ihm entstehen. Aus Zellen entstehen über Zellkolonien Organismen. Und aus Organismen werden über Gesellschaften individualisierte Überorganismen. A personal search for the meaning of lifeThe religio-cosmic meaning of the world-process
Kommerzielle Unternehmen zeigen viele Anzeichen dafür, eine Vorform eines neuen Überorganismus zu sein. Mit Hilfe der Computertechnologie werden sie eine neuronale Intelligenz entwickeln (haben es eigentlich schon) und über Mechanismen der Börse und insbesondere Investmentfonds werden sich ganze Populationen von Unternehmen als genetische Algorithmen optimieren. Der Mensch wird dann bloß noch die Rolle einer konstituierenden Zelle haben. Die Bedürfnisse des Organismus - sprich der Unternehmen - werden mit Hilfe der Gentechnik über schleichende Prozesse verschiendene Menschentypen in Analogie zu verschiedenen Zelltypen heranzüchten. the cephalisation of human organizationsThe neural intelligence of companies
Approximately 2000 wordsThe genetic intelligence of populations of companies
Kurzvorstellung eines Fachartikels über die Genetisierung der Wirtschaft
Tatsächlich wird das Bild des globalen Gehirns, des "Global Brain" von vielen wissenschaftlichen Autoren recht ernst genommen. Akademisch orientierte aber verständliche Beiträge  hochrangiger WissenschaftlerPrincipia Cybernetica Web
Approximately 2000 wordsHoward Bloom: Global Brain: The Evolution of Mass Mind
1996 erschien die folgende Habilitationsschrift von Theo Gehm: "Informationsverarbeitung in sozialen Systemen", BELTZ PsychologieVerlags Union, ISBN: 3-621-27324-7. Der Autor war zu jener Zeit an der Freien Universität Berlin im Fachbereich 12 tätig. Das Buch hat etwa 250 Seiten und ist recht akademisch gehalten.  
Gehm legt die These dar, daß sich soziale Kleingruppen ähnlich verhalten wie neuronale Netze.  
In Kapitel 3 charakterisiert er zunächst neuronale Netze folgendermaßen:
  • Die einzelnen Units (etwa gleichzusetzen mit Neuron) arbeiten selbstätig.
  • Sie sind resistent gegen den Wegfall einzelner Units.
  • Sie können mit verrauschten Eingangsdaten arbeiten.
  • Sie finden selbst wesentliche Merkmale zur Klassifikation von Eingangsdaten heraus.
  • Sie arbeiten oft besser, wenn das Eingangsmaterial verrauscht ist.
 
In Kapitel 4.1 stellt Gehm dann einige auffallende formale Parallelen zwischen kooperativer Informationsverarbeitung in neuronalen Netzwerken und in sozialen Gruppen vor:
  • Die einzelnen Unit (Neuronen, Menschen) arbeiten parallel.
  • Vorgegebene Kommunikationskanäle wie etwa Dienstwege oder Entscheidungsstrukturen in Organisationen können mit der Hardware neuronaler Netze verglichen werden.
  • Die Leistungsfähigkeit von sozialen Gruppen und neuronalen Netzen hängt von inneren Strukturen ab. Diese sind jedoch in beiden Fällen kaum erforscht.
 
Aufbauend auf diesem Ausgangsbefund entwickelt nun Gehm seine funktionale Analogien. Ich möchte nur beispielhaft einige bezeichnende Ausschnitte und Schlagworte zitieren:  
  • Seite 57: the group has a mental life
  • Seite 57: division of cognitive labour
  • Seite 57: "Gruppen als "a kind of widely distributed memory"
  • Seite 58: "A transactive memory system is a set of individual memory systems in combination with the communication that takes place between individuals"
  • Seite 65: ...daß Emotionen als Ergebnis funktioneller Informationsverarbeitungsprozesse zu betrachten sind.
  • Seite 66: ...wie empirisch gut belegt ist, beeinflussen sie (die Emotionen) Wahrnehmungsvorgänge...die Aufnahme und die Möglichkeit zum Abruf gespeicherter Information
  • Seite 66: ...beeinflussen Emotionen die gesamte individuelle Handlungsplanung, indem sie...die Wahrnehmung (im Sinne einer "Scheinwerferfunktion") auf spezifische Ereignisfelder hin orientieren und durch selektive Gedächtnisprozesse (im Sinne einer "Filterfunktion) einen spezifischen "Interpretationskontext" und spezifische Handlungsschemata aktivieren.
  • Seite 75: ein Verband als Ganzes kann zu korrekten Entscheidungen kommen, auch wenn die beteiligten Units nur "irgendwelche" Informationen wahrnehmen, und nach ihren "lokalen" Entscheidungskriterien wichten.
  • Seite 83: Jedes Unit bewertet die auf es eintreffende Information unterschiedlich und nach je eigenem Erfahrungs- und Bedeutsamkeitshintergrund.
  • Seite 94: "Regeln, Normen, Vorschriften, Organisationsbestimmungen, das Machtgefüge, das Beziehungsnetz von Sympathie und Antipathie". All diese Strukturen sind "Prämissen, die der Steuerung interner Prozesse dienen..."
  • Seite 99: ...bestehen soziale Systeme "nicht aus `ganzen Menschen', sondern aus Kommunikationen..."
  • Seite 99: Ähnliche Überlegungen formulieren auch... im Rahmen ihrer chaostheoretischen argumentierenden Analyse gedanklicher Prozesse
  • Seite 101: Die Vorstellung, daß sich das Verhalten von Individuen innerhalb einer Gruppe besser verstehen läßt, indem es mit dem Verhalten von Units innerhalb Neuronaler Netzwerke in Beziehung gesetzt wird, erscheint mir vor allem deshalb zukunftsträchtig, weil...
  • Seite 102: Keine Instanz innerhalb des Netzwerks entscheidet, daß diese Information "sinnvoll" ist, es erweist sich einzig, daß es günstig ist, auf die Informatin eines spezifischen Units zu achten.
  • Seite 104: Entdeckung der Langsmkeit...Überblicksberufe...Einzelberufe
  • Seite 107: "in different situations, different distributions of knowledge within the group may be optimal. Or different kinds of knowledge may vary in their optimal distribution within the group"
  • Seite 108: "Logik des Mißlingens"...unser Denken in einem evolutionären Prozeß...langfristige Handlungsfolgen in ihrer Konsequenz unterschätzt...
  • Seite 109: "Wir werden wahrscheinlich stärker berührt beim Anblick eines brennenden Kindes als bei dem eines auflodernden Planeten..."
  • Seite 110: Personalisierung von Problemspekten
  • Seite 111: Herausbildung von Gruppengrenzen
  • Seite 111: Eine Funktionsdifferenzierung zur Grenzziehung scheint auch für soziale Gruppen essentiell zu sein.
  • Seite 112: Abgrenzungsfunktion...randständige Gruppenmitglieder...Pointierung von in- und out-group-Merkmalen..."Rändern der Organisation"...
  • Seite 119: Organisationen handeln ebenso wie Individuen...
  • Seite 119: Teilhandlungen sozialer Systeme..."Wahrnehmung der Umgebung, Selbstüberwachung, Bestimmung der Richtung und des Endzustands, Wahl eines Progframmes, Umwandlung des Programmes und End-Evaluation."
  • Seite 122: ...Frequenz mit der einmal initiierte Prozesse kontrolliert werden...
  • Seite 130: ...daß ein Neuronales Netzwerk im Rahmen seiner Lern- und Adaptionsvorgänge immer Gefahr läuft, in einem "lokalen Optimum" steckenzubleiben.
  • Seite 132: Segmentierung des Erlebnisstroms
  • Seite 138: emotionale Notfallreaktionen
  • Seite 139: Anscheinend agiert eine soziale Gruppe hier ähnlich wie ein großer Informationsverarbeitender Organismus,...
  • Seite 143: "a fusion of individualities in a common whole, so that one`s very self, for many purposes at least, is the common life and purpose of the group"
  • Seite 144: Ökonomie der kognitiven Repräsentation
  • Seite 148: grounding von Kommunikationsinhalten
  • Seite 149: ritualize initions of new members...coal miners...
  • Seite 150: interindividuelle "Synchronisation"
  • Seite 150: Bewegungssynchronisierung für die individuelle und gemeinsame Verhaltensorganisation
  • Seite 157: "Sprachstil des dauernden Bestätigens", dem "aizuchi"...
  • Sei6e 157: "Kult der individuellen Selbständigkeit und Entscheidungskompetenz" in Amerika und Europa
  • Seite 161: Metasysteme wie die Staaten sozialer Insekten oder die Gesellschaftsform Spartas.
  • Seite 166: ...Angemessenheit unterschiedlicher Führungsmodelle...
  • Seite 167: "several network structures must be tried before an acceptable one is found and a quick feedback on the performance is critical"...
  • Seite 168: "geplante Evolution"
  • Seite 169: ...systemtheoretische Ansätzen zur Betriebsführung...
 
Die Thesen Gehms sind durch eine Vielzahl eingearbeiteter Literaturhinweise unterstützt und illustriert. Jedoch vermeidet der Autor es, die gezielte Umsetzung seiner Befunde im Umfeld eines Unternehmens oder einer Organisation vorzuschlagen.

Ebenso verzichtet Gehm auf eine Betrachtung der folgenden Aspekte im Zusammenhang mit computerunterstützter Gruppenarbeit:

  • Digitale Wichtung von Informationsflüssen (synaptic office) in Standard Suchmaschinen und Bürokommunikationssoftware
  • Die stark differenzierende und formalisierende Wirkung von Normen im beruflichen Alltag
 
  • Die Ausweitung der Analogie von Gruppen und Individuen vom Paradigma des neuronalen Netzes auf das Paradigma des genetischen Algorithmus.
  • Kodierung sozialer Abläufe, von Entscheidungsprozessen und funktionalen Differnzierung durch Standardunternehmenssoftware (z. B: SAP, Lotus Notes, Baan). Denn gerade hier könnt man in Verbindung mit den zukünftigen Möglichkeiten der Gentechnik und den Neurowissenschaften die Ansätze der Vision von Huxley's Schöner Neuer Welt sehen.
the Self Modeling of Social Systems...Stoica, Christina:, Die Vernetzung sozialer Einheiten : hybride interaktive neuronale Netzwerke in den Kommunikations- und Sozialwissenschaften / Christina Stoica. Mit einem Geleitw. von Jürgen Klüver. - Wiesbaden : Dt. Univ.-Verl., 2000. - X, 151 S. : 21 cm. - (DUV : Sozialwissenschaft), Zugl.: Essen, Univ., Diss., 1997. - Erscheint: Februar 2000, ISBN 3-8244-4390-2
Insbesondere aber muß man sich fragen, wieso die weitreichenden Implikationen der Arbeit von Gehm genausowenig von Softwareentwicklern und Unternehmensberatern aufgegriffen werden, wie die Arbeit von Ballot und Taymaz zu genetischen Algorithmen. Ein Magazin, in dem solche Themen einmal verstärkt berücksichtigt werden könnten.Journal of Artificial Societies and Social Simulation
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