Chronik einer Endomorphose, 28. Januar 2001

Ein Fachartikel zur Modellierung von Unternehmenspopulationen als genetische Algorithmen

Technological change, learning and macro-economic coordination: An evolutionary model
in: Journal of Artificial Societies and Social Simulation vol. 2, no. 2

Der Begriff Endomorphose ist eine Kunstschöpfung und er soll soviel bedeuten wie "nach innen gerichtete Verformung" oder "Gestaltung der Bestandteile des eigenen Selbst".

 
Ich glaube, daß der "Weltprozess" derart angelegt ist, daß stetig komplexere Strukturen in ihm entstehen. Aus Zellen entstehen über Zellkolonien Organismen. Und aus Organismen werden über Gesellschaften individualisierte Überorganismen. A personal search for the meaning of lifeThe religio-cosmic meaning of the world-process
Kommerzielle Unternehmen zeigen viele Anzeichen dafür, eine Vorform eines neuen Überorganismus zu sein. Mit Hilfe der Computertechnologie werden sie eine neuronale Intelligenz entwickeln (haben es eigentlich schon) und über Mechanismen der Börse und insbesondere Investmentfonds werden sich ganze Populationen von Unternehmen als genetische Algorithmen optimieren. Der Mensch wird dann bloß noch die Rolle einer konstituierenden Zelle haben. Die Bedürfnisse des Organismus - sprich der Unternehmen - werden mit Hilfe der Gentechnik über schleichende Prozesse verschiendene Menschentypen in Analogie zu verschiedenen Zelltypen heranzüchten. the cephalisation of human organizationsThe neural intelligence of companies
Approximately 2000 wordsThe genetic intelligence of populations of companies
Eine Habilitationsschrift von Theo Gehm aus dem Jahre 1996soziale Gruppen als neuronale Netze
Tatsächlich wird das Bild des globalen Gehirns, des "Global Brain" von vielen wissenschaftlichen Autoren recht ernst genommen. Akademisch orientierte aber verständliche Beiträge  hochrangiger WissenschaftlerPrincipia Cybernetica Web
Approximately 2000 wordsHoward Bloom: Global Brain: The Evolution of Mass Mind
In dem oben erwähnten Artikel von Gérard Ballot and Erol Taymaz werden Teilaspekte von Unternehmenspopulationen als genetischer Algorithmus modelliert. Gegenstand der Überlegungen ist das Modell "MOSES" bestimmter Branchen der schwedischen Wirtschaft aus den 1980iger Jahren (Kapitel 1.5 des Originals). Der zentrale Begriff eines Klassifizierungssystems wird in Kapitel 1.7 prägnant formuliert: "A classifier system is a list of 'if-then' statements (or rules) called classifiers that map conditions into actions, and a set of algorithms that evaluate the performance of the rules and that generate new rules. Rule discovery is not random but directed by the system's experience."

Die Grundvoraussetzung genetischer Optimierung werden dabei alle erfüllt, wie im folgenden gezeigt wird. Die Verweise auf die Kapitelüberschriften entsprechen den Nummerierung des Originalartikels von Ballot und Taymaz.

Gleicher Erfolgsmasstab

Das Funktionieren eines genetischen Algorithmus setzt einen einheitlichen Bewertungsmaßstab für alle teilnehmenden Individuen voraus. In Kapitel 5.2 heißt es in dem Artikel von Ballot und Taymaz explizit: "Competitive pressure and diversity, which entails some very efficient firms, are the mechanisms at work. This evolutionary theorem is here obtained in a complete micro-to-macro model." Das es sich um ein marktwirtschaftliches Modell handelt, kann man davon ausgehen, daß der Profit als Bewertungsmaßstab unterstellt wird.

Kodierung des Bauplans

Genetische Algorithmen brauchen fest kodierte Baupläne oder Regeln die den Aufbau oder das Verhalten von Individuen in der Realität über eine gesichert lange Zeit garantieren. In Kapitel 1.2 führen die Autoren aus, daß "firms use rules and they modify the rules in response to their failure or success". Zwar sprechen die Autoren in diesem Zusammenhang nicht von der zunehmenden Kodierung von Unternehmensstrukturen und -verhalten über Normen, insbesondere des Qualitätsmangements oder von Standardsoftware. Aber sie setzen voraus, daß es feste Regeln gibt, die man gezielt verändern kann.

Teilung statt Wachstum und Tod

Kein Elephant wächst bei erfolgreicher Nahrungsaufnahme ins Unermeßliche. Und bevor Bakterien die Größe von Tennisbällen erreicht haben, haben sie sich bereits zigmal geteilt. Genetische Optimierung setzt voraus, daß neu gewonnene Ressourcen zumindest teilweise zur Generierung neuer Individuen eingesetzt werden. Am Ende von Kapitel 2.1 heißt es: "Firms revise decisions, but sometimes they are unable to avoid losses, and they are eliminated by competition. However profits in an industry lead to the birth of new firms." Im Umfeld begrenzter Ressourcen ist die Erzeugung neuer Individuen gleichbedeutend mit dem Tod anderer Individuen. Ballot und Taymaz erwähnen den Tod von Unternehmen als Grundbestandteil einer genetischen Optimierung.

Erfolg = Vermehrung erfolgsbeteiligter Merkmale

Erfolgreiche Merkmale müssen sich intelligent auf neu zu schaffende (Mitose, Meiose) oder aber zwischen bereits existierende Individuen ausbreiten (z. B: Konjugation bei Bakterien wie Paramecien). Kapitel 2.14 führt dazu aus: "Firms recombine their own sets of techniques to obtain new ones (experimentation), recombine their sets with other firms' sets (imitation, but with modification), or invent some technique which they combine with the others (mutation)." Die Austauschbarkeit kodierter Regeln wird duch die Tatsache ermöglicht, daß die Parameter für alle Unternehmen einer Branche gleich sind und sich lediglich in Parameterwerten unterscheiden. Dazu heißt es in Kapitel 2.5: "The allocation of resources for various activities are controlled by certain behavioural equations that have the same parameters for all firms." und "The parameter values for each decision type are firm-specific and endogenously modified as a result of learning." Dies erinnert sehr stark an die aktuelle Tendenz vieler Unternehmen hin in Richtung einer Standardisierung ihrer Prozesse. Eine Standardisierung von beispielsweise verwendeter Software ermöglicht den schnellen Austausch von Arbeitern zwischen verschiedenen Arbeitsplätzen oder vereinfachte Schnittstellenbetrachtungen bei Kooperationen mit neuen Firmen. An dieser Stelle fällt auf, daß die Autoren an keiner Stelle ihres Artikels auf die Methodes des Benchmarking verwiesen haben.

Variation von Merkmalen

Diesem Punkt widmen die Autoren große Aufmerksamkeit. In einer Zusammenfassung, Kapitel 5.3, heißt es: "The third result is that diversity of rules is self-sustained (both at the level of decision types and of the rules in the classifiers). In spite of learning, there is no tendency towards uniformity." Der Zweck von Vielfalt liegt darin, daß Populationen nicht auf lokalen Erfolgsmaxima gefangen bleiben. Kapitel 1.4: "Does learning by heterogeneous firms lead to an unpredictable future, with the possibility of lock-in into inefficient situations? If there are lock-ins, is it possible to lock out ? If such is the case, can the evolution be characterised by punctuated equilibria, i.e. long periods of coordination, separated by short periods of disorderly transition."

Online-Jounal of Artificial SocietiesJournal of Artificial Societies

Die Autoren legen großen Wert auf die Tatsache, daß die Verwendung genetischer Algorithmen besonders dann sinnvoll ist, wenn die
Komplexität der Realität für unternehmerische Akteure nicht mehr überschaubar ist. In Kapitel 1.7 heißt es: "A classifier system does not require that the firm build a causal theory of the economy in order to take decisions as the rational expectations principle would require, an impossible task in a very complex world. It does not even require consistency between rules." Und als ein Ergebnis der Arbeit wird in Kapitel 5.4 auf die Tatsache verwiesen, daß einfache Regeln meist größeren Erfolg für Unternehmen bewirken, als komplizierte Regeln: "A ... conjecture is that the factors for performance are very hard to discover in our complex and evolving economy, and that no decision model fits, whatever its sophistication, due to the state of flux of the economy."
 

Ballot und Taymaz weisen ausdrücklich darauf hin, daß ihnen kein Konzept der Übertragung genetischer Heuristik auf Makroökonomische Strukturen bekannt ist: "Important concepts and tools for evolutionary theorising and modelling have been designed, yet extremely few applications have been made to the evolution of rules in a macroeconomic environment." Im gleichen Artikel schlagen sie implizit die Anwendung des Paradigmas künstlicher Intelligenz auf Unternehmenspopulationen vor: "Classifier systems, initiated by Holland (1976) and developed as a tool for Artificial Intelligence, constitute a flexible tool that we will use to model decision making , and genetic algorithms allow us to create new rules."
 

Ballot und Taymaz gehen jedoch nicht so weit und schlagen die aktive Gestaltung von Unternehmenspopulationen als genetische Algorithmen vor:
  • Sie sagen nicht, daß man möglichst viele Unternehmensmerkmale aktiv kodieren solle, wie dies etwa über ISO-Normen (Qualität, Umwelt etc.) oder die weitere Verbreitung stark standardisierender Software (SAP, Lotus Notes) möglich wäre.
  • Sie schlagen nicht vor, daß große Investementfonds den Austausch von kodierten Unternehmensmerkmalen im Sinne eines Klassifizierungssystems (genetische Regeln) erzwingen sollen.
  • Sie schlagen nicht vor, daß Unternehmen eine begrenzte und zum Wohle der Gesamtpopulation (z. B: Investmentfond) optimierte aber gesteuerte Lebenzeit haben sollen, also irgendwann einmal sterben sollen.
  • Sie vergleichen die kodierten Merkmale nicht explizit mit der genetischen Information lebender Organismen (DNS).
  • Sie deuten nicht an, daß die kodierten Merkmale einmal eine eigene Dynamik im Sinne der Vorstellung vom "egoistischen Gens" wie von Richard Dawkins formuliert, entwickeln könnten. Sie schlagen insbesondere nicht vor, daß kodierte Merkmale einmal den Charakter von Wertpapieren erlangen könnten.

Es ist aber meiner Meinung nach nur eine Frage der Zeit, bis auch diese Analogien erkannt sind und ihre Nutzung vorgeschlagen wird.


the Self Modeling of Social Systems...Stoica, Christina:, Die Vernetzung sozialer Einheiten : hybride interaktive neuronale Netzwerke in den Kommunikations- und Sozialwissenschaften / Christina Stoica. Mit einem Geleitw. von Jürgen Klüver. - Wiesbaden : Dt. Univ.-Verl., 2000. - X, 151 S. : 21 cm. - (DUV : Sozialwissenschaft), Zugl.: Essen, Univ., Diss., 1997. - Erscheint: Februar 2000, ISBN 3-8244-4390-2
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